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Arroganz, systemische Krise und die spirituelle Blindheit unserer Zeit

Im Angesicht von Krieg und Chaos: liegen die Lösungen, die wir brauchen, schon die ganze Zeit vor uns?
Onlysilence, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons

von Yunus Mairhofer

Die Ereignisse überschlagen sich. In den Trümmern Gazas tobt weiter ein Krieg, die Großmächte – wenn nicht direkt selbst involviert – liefern Waffen an mehrere Fronten. Russland und China bauen ihre Allianz aus, während die Vereinigten Staaten versuchen, ihre zerfallende Ordnung aufrechtzuerhalten.
Europa wirkt indes müde, Deutschland ringt mit sich selbst, Frankreich schwankt zwischen innerem Verfall und äußerer Härte. An diesem Schauplatz der Unsicherheit erschallen (leere) Forderungen nach Deeskalation einerseits und Appelle zur notwendigen Aufrüstung auf der andren als lähmender Missklang.

Der Qur’an, das heilige Buch der Muslime, erinnert und spricht in mehreren seiner Verse von Nationen, die in Arroganz lebten. Von solchen, die sich für unbesiegbar hielten (vgl. 41:16), weil sie Macht hatten, Handelswege kontrollierten, Mauern bauten und Bündnisse schlossen. Zum Beispiel das Volk der ʿĀd, dessen technologische Fähigkeiten die Bewohner der Arabischen Halbinsel beeindruckten. Oder das Volk von Saba, das über ein komplexes Wassersystem verfügte.
Beide gingen sie unter – nicht wegen mangelnder Technologie, sondern wegen mangelnder Demut.

Arroganz war nicht nur ein Gefühl, sie war System. Im Qur’an tauchen die Erzählungen über vergangene Völker immer als Warnungen auf. Tatsächlich lässt sich auch die Arroganz heute systemisch verstehen: als globalisierte Selbstüberhöhung. Eine westliche Ordnung, die behauptet, universelle Werte zu verkörpern – und doch mit zweierlei Maß misst. Sie fordert Demokratie, wo es ihr passt, und ignoriert sie, wo es sie stört. Sie beruft sich auf die Menschenwürde – und erklärt Tausende von Kindern, die in Gaza getötet wurden und werden, zu Kollateralschäden.

Das Problem liegt freilich nicht allein im Westen, genauso wenig wie es bei den Religionen liegt. Es liegt viel eher in der modernen Idee der „Kontrolle“. In dem Glauben, dass alles – Klima, Krieg, Kultur – mit genügend Technologie, Geld oder KI kontrolliert werden kann. Diese Anschauung ist wiederum religiöser, als seine Anhänger zugeben würden. Sie ersetzt in Wirklichkeit aber die Ehrfurcht vor Gott durch eine Illusion der Machbarkeit.

Aber wo Gott aus der Ordnung verschwindet, verschwinden auch Maß und Reue. Dann lautet die Frage nicht mehr: „Sollten wir das tun?“, sondern einfach: „Lohnt es sich?“

Es ist kein Zufall, dass gerade in diesem Moment spirituelle Sprachen verstummen. Religiöse Begriffe wie Gottvertrauen, Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit werden von vielen als archaisch angesehen. Doch gerade diese Konzepte, die in jeder Religion vorhanden sind, könnten der Welt eine Korrektur bieten.

Vertrauen in Gott bedeutet beispielsweise nicht Passivität, sondern das Eingeständnis: Der Mensch hat nicht alles unter Kontrolle. Das schützt vor Überheblichkeit. Bei wahrer Gerechtigkeit (islam. Àdl), geht es nicht nur um faire Verteilung, sondern um ein Gleichgewicht zwischen Rechten und Pflichten. Wer nur Rechte einfordert, aber keine Verantwortung übernimmt, spaltet die Gesellschaft.

Rechtschaffenheit wiederum bedeutet auch Selbstbeschränkung – nicht aus Angst, sondern aus Einsicht in die eigene Abhängig- und Bedürftigkeit.

Was, wenn diese Begriffe nicht nur fromme Verzierungen wären, sondern Grundpfeiler der politischen Kultur?

Es bedarf keines naiven Idealismus, um zu erkennen: Die Welt taumelt, weil sie aus dem Gleichgewicht geraten ist. Es geht nicht darum, Schuld zuzuweisen, sondern Perspektiven zu verschieben.

Eine religiöse Sichtweise ist kein alternatives Programm, sondern eine Erinnerung: Der Mensch ist nicht das Maß aller Dinge. Er ist verantwortlich. Und er ist rechenschaftspflichtig – nicht nur vor der Geschichte, sondern vor seinem Schöpfer.

Diese Perspektive ist ebenso unpopulär wie unbequem. Aber sie ist heilsam. Denn vielleicht beginnt Frieden nicht auf Konferenzen, sondern in Herzen, die sich selbst hinterfragen.

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