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Radikalisierung: Wenn Jugendliche im Namen des Glaubens verloren gehen

Radikale Prediger versuchen, Jugendliche online zu beeinflussen – nun meldet sich ein Imam zu Wort.

von Ansar Ahmad Arshad

Selbstgerechte Vorbilder mit immenser Wirkung haben viele Gesichter. Heute haben sie einen Namen mehr: Die Hassfluencer, die sich als »Hüter« des Islams verstehen. Sie sind wie eine brennende Fackel, die Erhellung und Licht verspricht, aber in Wirklichkeit das Haus in Brand setzt. Das Haus brennt lichterloh – das Haus der Träume, in dem viele Eltern ihre Kinder liebevoll aufgezogen haben. Diese geistige Brandstiftung wird durch Missbrauch erzeugt. Wer sich in ihrem vermeintlichen “Licht” wähnt, merkt oft erst zu spät, dass er längst in Flammen steht.

Hinter jedem radikalisierten jungen Menschen verbirgt sich eine einzigartige Lebensgeschichte, die anders hätte verlaufen können: eine Tochter, die mit funkelnden Augen von Zukunftsträumen sprach und nun schweigend ihre Familie verlässt; ein Sohn, der früher lachend mit Freunden unterwegs war und plötzlich alle Kontakte abbricht. Zurück bleiben Leere, Ratlosigkeit und die schmerzhafte Frage: Wann haben wir unser Kind verloren?

Radikalisierung ist kein Schicksal, sondern eine Tragödie, die verhindert werden kann, wenn wir die Sehnsucht nach Sinn nicht den falschen Stimmen überlassen.

Eine kritische Abrechnung mit den radikalen Predigern

Unsicherheit lässt Sehnsucht wachsen. Sehnsucht öffnet Türen, die auch ins Dunkel führen können. Wer durch diese Türen tritt, kann in Radikalisierung geraten, die zu Extremismus führt – der Extremismus wird im schlimmsten Fall zum Terror. Es ist eine gefährliche Spirale, die sich auch vor unseren Augen in Deutschland abspielt.

Ich beobachte als Imam, dass radikal-“islamische” Prediger, besonders aus salafistischen Kreisen, die Unsicherheit von Jugendlichen schamlos instrumentalisieren. Mit dramatischer Gestik, starren Dichotomien und simplifizierenden Parolen inszenieren sie sich als vermeintliche Verfechter der Religion. Ich sehe, wie sie orientierungslose Jugendliche mit einfachen Antworten ködern und sie in eine ideologische Falle locken, die nicht Befreiung, sondern Abhängigkeit bedeutet.

Wie schon Shakespeare wusste: »Die ganze Welt ist Bühne, und alle Frauen und Männer bloße Spieler.« Wer heute die Arena der sozialen Medien betritt, spielt nicht selten auch eine Rolle – mit sorgfältig inszenierten Bildern, markigen Worten und manipulativen Botschaften. Man kann nicht leugnen, dass gerade Hassprediger diese Bühne meisterhaft beherrschen: Sie wissen, wie man Emotionen schürt, wie man Empörung entfacht und: wie man aus Sehnsucht Abhängigkeit formt.

Was besonders ins Auge springt und wie ein Stich in die Magengrube fährt, ist die skrupellose Art und Weise, wie diese Hassprediger hantieren: In deutscher Jugendsprache und meist ohne fundierte Ausbildung versuchen diese Laienprediger, neue Anhänger zu gewinnen. Sie nutzen die Neugier junger Menschen und instrumentalisieren die adoleszente Rebellion, um mitunter integrationsfeindliche Ansichten zu festigen. Da ihnen die Kontrolle der Sicherheitsbehörden dabei im Weg steht, weichen sie auf das aus, was sich die sogenannte »Home-Dawa« nennt. Moscheen erklären sie für »überholt«, islamischen Verbänden sprechen sie jede Kompetenz ab – und verlagern deshalb ihre Indoktrination in private Wohnzimmer.

Längst sind diese Hassfluencer selbst zu den größten Widersachern des Islams geworden: vom Verfassungsschutz beobachtet, polizeibekannt, frauenfeindlich in ihrer Sprache und zerrissen zwischen Selbstdarstellung und Polarisierung. Das ist die Realität vieler Fanatiker. 

Dummerweise begreifen diese sich als ‘Korankenner’ inszenierenden Charaktere nicht, dass sie nicht nur im gesellschaftlichen, sondern gerade im koranischen Lackmustest durchfallen: Ihre Haltung sowie ihr Verhalten sind nichts anderes als der Inbegriff von ‚Fitna‘ – Zwietracht, Spaltung und Versuchung –, eine der schwersten Sünden im Koran.

Wenn ich den Heiligen Koran lese, stoße ich unzählige Male auf klare Botschaften wie: Gott liebt diejenigen nicht, die Unheil auf der Erde anrichten (28:77–78); Er liebt diejenigen nicht, die Unrecht tun (3:58); und Er liebt diejenigen nicht, die Grenzen überschreiten und hochmütig sind (5:88; 31:19).

Ich frage mich: Wie können diese sogenannten Prediger da behaupten, im Namen Gottes zu handeln?  Unser allwissender Herr ist der Kenner der Herzen und der Ursprung aller Rechtleitung. Überheblichkeit hat jedoch heute oft den Platz des barmherzigen Gottes in den Herzen eingenommen. Arroganz führt Fundamentalisten in die Falle einer selbstverherrlichenden »Gottwerdung«. Während sie ihr Ego nähren, verkümmert ihr Geist der Menschlichkeit und Empathie. Dabei sollten doch gerade sie als ‘Prediger’ wissen: Die islamische Religion sowie der islamische Prophet wünschten niemals  eine rapide Zunahme der Anhängerschaft nur um der Zahlen willen noch befürworteten sie ein blindes Folgen. Im Gegenteil verlangt der Islam tiefes Nachdenken und ernsthafte Selbstreflexion. Im Heiligen Koran wird  an zahlreichen Stellen immer wieder dazu aufgerufen, etwa in Sure 30, Vers 9: »Haben sie denn nicht nachgedacht in ihrem Innern?«.

Auch wenn viele – Fanatiker wie Gegner – das heute gar nicht hören wollen, aber ein unbefangenes Studium der islamischen Quellen beweist, dass ein erzwungenes Rekrutieren niemals zur Idee des Islams und zum Vorgehen des Propheten Muhammad (saw) gehörte.

Imam Ansar Ahmad Arshad (ganz rechts) spricht vor Schülerinnen und Schülern des Grundschulverbunds Ludgerus in Bocholt anlässlich der feierlichen Eröffnung des neuen Schulgebäudes. Neben ihm stehen der ehemalige Bürgermeister, ein katholischer Pfarrer und ein evangelischer Pastor, mit denen er gemeinsam die Einweihung des Gebäudes begleitet.

Was schützt unsere Kinder rechtzeitig vor dem Sog des Fanatismus?

Auch außerhalb Deutschlands teilen viele Eltern und Verantwortliche in Europa die Sorge um die Zukunft der Jugend. Kürzlich berichtete die britische Abgeordnete Alex Baker von einem eindrucksvollen Treffen mit dem spirituellen Oberhaupt der Ahmadiyya Muslim Gemeinde, Hadhrat Mirza Masroor Ahmad (aba). Im anschließenden Interview mit dem Fernsehsender Muslim Television Ahmadiyya (mta) sagte sie:

»Seine Heiligkeit sprach darüber, wie wichtig es ist, unsere Jugendlichen zu unterstützen und ihnen noch mehr Zeit und Aufmerksamkeit zu schenken. In der heutigen Welt aufzuwachsen, ist zurzeit eine echte Herausforderung. Wir müssen daher noch mehr für unsere Jugend tun, um ihnen die Unterstützung zu geben, die sie brauchen, um mit dieser Welt zurechtzukommen. Als Mutter von zwei jungen Töchtern klingen (diese Worte Seiner Heiligkeit) besonders in mir nach, und ich habe mir vorgenommen, sicherzustellen, sowohl für meine Kinder da zu sein als auch dafür zu sorgen, dass wir in unseren Gemeinden die richtige Unterstützung haben, um all unsere jungen Menschen zu unterstützen.«[1]

Dieses Beispiel zeigt: Aus der muslimischen Welt kommen sehr wohl Stimmen der Ermutigung und des Friedens. Sie stehen im scharfen Kontrast zu jenen falschen Predigern, die unsere Kinder vergiften wollen. Warum werden diese Stimmen nicht in den Medien rezipiert? 

Ohne den Anspruch, hier erschöpfende Antworten zu der Fragestellung zu geben, möchte ich lediglich einige Gedanken teilen. Manches davon wissen wir längst, doch manchmal tut es gut, sich dessen neu bewusst zu werden, worauf junge Menschen in dieser Zeit besonders angewiesen sind.

Wertschätzung und Anerkennung

Der Wunsch, gesehen und anerkannt zu werden, ist ein starker Antrieb. Auch die Neuropsychologie bestätigt: Aufrichtige Wertschätzung wirkt nicht nur emotional, sondern auch biologisch. Anerkennung und soziale Bestätigung aktivieren Botenstoffe, die Motivation, Bindung und Wohlbefinden fördern. Studien der Positiven Psychologie sowie neurowissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass soziale Anerkennung und Lob messbar mit Aktivität in den Belohnungszentren des Gehirns verbunden sind. Mit anderen Worten: Wertschätzung ist kein bloßes »Nice-to- have«, sondern ein neurobiologischer Schutzfaktor. Sie stärkt Resilienz, wirkt Vereinsamung entgegen und macht Jugendliche weniger anfällig für die verführerischen Parolen von Extremisten.

Ehrliche Anerkennung ist von Anfang an wie Luft zum Atmen für die Gesellschaft. Zerwürfnisse mit nahestehenden Personen hinterlassen ein tiefes Loch, das gefüllt werden will. Der Wunsch, »wichtig zu sein«, ist gerade in solchen Momenten überlebenswichtig. Menschen sehnen sich nach Bedeutung. Statt mit Lob zu geizen, sollte aufrichtige und ernst gemeinte Wertschätzung regelmäßig geübt werden und darf keinesfalls Mangelware sein – natürlich unter Berücksichtigung der richtigen Dosierung.

Soziale Strukturen und Gemeinschaft

Doch auch Wertschätzung allein reicht nicht. Sie muss eingebettet sein in tragfähige Strukturen, die Jugendlichen Halt und Zugehörigkeit geben. Genau hier setzt Präventionsarbeit an: Sie beginnt dort, wo Jugendliche Orientierung erfahren – in ihren Familien, in Schulen und ganz besonders auch in ihren Gemeinden.

Eine internationale Metaanalyse zeigt tatsächlich, dass Jugendliche, die in stabilen Gemeinschaften verankert sind, deutlich seltener extremistische Einstellungen entwickeln. Soziale  Bindungen, Wertschätzung und positive Vorbilder reduzieren die Anfälligkeit für Hassparolen erheblich. Auch eine Untersuchung des Bundesinnenministeriums verdeutlicht: Religiöse Praxis und Moscheebesuch führen nicht automatisch zu Radikalisierung. Im Gegenteil, Gemeinden, die offen, dialogbereit und gesellschaftsorientiert arbeiten, erweisen sich als wichtige Partner in der Prävention.

Experten weisen zudem darauf hin, dass viele radikalisierte Jugendliche zuvor nicht eng in traditionelle Gemeinschaften eingebunden waren. Stattdessen suchten sie Orientierung in privaten Kreisen oder über soziale Medien, wo extremistische Stimmen ungehindert wirken können. Die  Schlussfolgerung ist klar: Jugendliche brauchen Räume, in denen sie ihre religiöse Identität leben können, ohne in ideologische Sackgassen zu geraten.

Moscheegemeinden, Jugendorganisationen oder Bewegungen wie die Ahmadiyya Muslim Gemeinde können genau diese Räume schaffen – indem sie Glauben mit Bildung, Dialog und gesellschaftlicher Verantwortung verbinden. So lassen sich Brücken bauen, bevor Extremisten Mauern errichten.

Bildung und Aufklärung

Wer nie gelernt hat, Fragen zu stellen oder religiöse Aussagen kritisch einzuordnen, ist anfälliger für einfache Antworten, wie sie extremistische Gruppen anbieten. Eine solide schulische wie auch religiöse Bildung kann hier entscheidend sein. Jugendliche müssen lernen, zwischen Glaube und Ideologie zu unterscheiden und den Koran im Kontext seiner ethischen und historischen Dimension zu verstehen – nicht als politisches oder kämpferisches Manifest.

Aufklärung bedeutet in diesem Zusammenhang, junge Menschen zu befähigen, Manipulation zu durchschauen und selbstbewusst für humane und  freiheitliche Werte einzustehen. Religiöse Bildung sollte dabei nicht abgewertet, sondern gestärkt werden – jedoch in aufgeklärter Form: vermittelt durch glaubwürdige und reflektierte Rabbiner, Pfarrer und Imame.

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Über den Autor: Ansar Ahmad Arshad ist Imam und Theologe der Ahmadiyya Muslim Gemeinde. Derzeit betreut er als Imam die lokale Gemeinde in Bocholt.

Referenzen:

[1] Der entsprechende Videoausschnitt zu diesem Kurzinterview ist online verfügbar unter: https://youtube.com/shorts/bc2ZW7kZkQA?si=VMDoVuQSC4X3h5Oj

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