
von Scharjil Khalid
Ein wichtiger Gradmesser für die Qualität einer funktionierenden Demokratie ist der Umgang mit Minderheiten. In Deutschland bilden Muslime die größte Minderheit. Zudem leben – mit Ausnahme Frankreichs – in keinem westlichen Land so viele Muslime wie in Deutschland, nicht einmal in den USA. Daraus ergibt sich eine besondere Verantwortung für die Rechte, Repräsentanz und Sichtbarkeit muslimischer Menschen in diesem Land.
Doch viele der rund sechs Millionen Muslime in Deutschland empfinden, dass diese Verantwortung nicht ausreichend wahrgenommen wird – insbesondere in Politik und Medien. Ein Blick in den aktuellen Koalitionsvertrag bestätigt diesen Eindruck: Der Begriff Islam taucht dort nur dreimal auf – und das ausschließlich in negativem Zusammenhang, nämlich im Kontext von Islamismus. Während der Koalitionsvertrag der vorherigen Ampel-Koalition einen eigenen Abschnitt zum muslimischen Leben enthielt, inklusive konkreter Vorhaben wie dem Kampf gegen Muslimfeindlichkeit, der Förderung der Imamausbildung und der stärkeren Einbindung muslimischer Gemeinden, markiert der aktuelle Vertrag einen Rückschritt in der Anerkennung und Einbindung muslimischen Lebens in Deutschland.
Auch medial dominiert eine negative Darstellung von Muslimen: Laut einer vom Bundesinnenministerium beauftragten Studie berichten 57 Prozent der Artikel in führenden deutschen Tageszeitungen über den Islam in negativem Kontext. Im Fernsehen liegt dieser Anteil sogar bei alarmierenden 89 Prozent. Die Themen sind Terror, Unterdrückung, Radikalisierung.
Dabei gibt es unzählige positive, friedensfördernde Initiativen – etwa die Friedenskampagne „Muslime für Frieden“ am 1. Mai. Bundesweit haben an diesem Tag rund 300 örtliche Moscheegemeinden der Ahmadiyya Muslim Jamaat Friedensfahrradtouren und Mahnwachen organisiert. Tausende Muslime suchten und suchen bei dieser und unzähligen weiteren Initiativen den Dialog mit der Gesellschaft und setzen sich aktiv für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ein.
Die Khadija-Moschee in Berlin-Pankow hat sich beispielsweise dabei etwas Besonderes vorgenommen: Als einzige Minarett-Moschee Ostdeutschlands möchte sie gezielt mit Menschen in ostdeutschen Stadtteilen ins Gespräch kommen. Viele Migranten meiden den Osten – aus Angst vor Rassismus und dem erstarkten Rechtsextremismus. Doch genau diesen Ängsten will die Gemeinde begegnen. Mit einer Friedensmahnwache am S-Bahnhof Lichtenberg will sie ein Zeichen setzen und Vorurteile abbauen.
Schließlich ist gerade für Muslime Frieden das zentrale Thema schlechthin. Viele Gläubige – nicht nur der Ahmadiyya Gemeinde – sind vor Krieg und Verfolgung geflüchtet. Sie leben in Deutschland, weil sie Familie, Heimat und Freunde verloren haben und hier einen Neuanfang in Frieden suchen. Diese Erfahrungen hinterlassen eine besondere Sensibilität gegenüber kriegerischen Entwicklungen – anders als bei großen Teilen der deutschen Mehrheitsgesellschaft, für die Krieg oft eine abstrakte Realität ist. Die Debatten über Aufrüstung, Waffenlieferungen und die Änderung des Grundgesetzes zugunsten militärischer Maßnahmen lösen deshalb gerade in muslimischen Gemeinschaften große Besorgnis aus.
So wie am 1. Mai gehen immer wieder hunderte bis tausende Muslime auf die Straße, um ein Zeichen für Frieden und gegen Spaltung zu setzen. Damit übernehmen sie Verantwortung als Bürger dieses Landes. Wann wird Deutschland seiner Verantwortung gerecht werden und diese Muslime für Frieden sichtbar machen?
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