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Bundestagswahl 2025: Die islamische Perspektive auf politische Verantwortung

In Deutschland steht die Bundestagswahl vor der Tür, aber viele fragen sich bis zuletzt: Wen wählen?
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von Yunus Mairhofer, Redaktion

Während politische Debatten über soziale Gerechtigkeit, Wirtschaft und Außenpolitik dominieren, stellt sich für viele Muslime eine tiefere Frage: Welche Prinzipien lehrt die Religion in Bezug auf politische Verantwortung und die Wahl gerechter Vertreter?

Politische Verantwortung aus islamischer Sicht
Der Islam betrachtet politische Verantwortung als eine Form der Treuhandschaft (Amāna). In mehreren Versen des Qur’ans und den Überlieferungen des Propheten Muhammad (Friede und Segen seien auf ihm) wird betont, dass eine Führungspersönlichkeit in erster Linie dem Wohl der Gemeinschaft dienen muss. In Sure An-Nisa (4:59) heißt es:

»Allah gebietet euch, dass ihr die Treuhandschaft jenen übergebt, die ihrer würdig sind; und wenn ihr zwischen Menschen richtet, dass ihr richtet nach Gerechtigkeit. Fürwahr, herrlich ist, wozu Allah euch ermahnt. Allah ist allhörend, allsehend.«

Daraus leitet sich die Verpflichtung ab, sich für eine gerechte Ordnung einzusetzen. Dies gilt sowohl für die Wähler als auch für die gewählten Repräsentanten. Muslime sind angehalten, sich aktiv mit politischen Fragen auseinanderzusetzen und dann verantwortungsbewusst zu entscheiden. Das spirituelle Oberhaupt der Ahmadiyya Muslim Gemeinde, Seine Heiligkeit Hadhrat Mirza Masroor Ahmad (aba), erläutert:

»Im Hinblick auf kollektive Verantwortungen stellt ein wichtiger Aspekt die Verpflichtung der Bürger dar, jene Vertreter des Staates zu wählen, die sie für ihre Nation von größtem Wert erachten. Wenn es um Wahlen oder Ernennungen geht, sollte eine Person nicht automatisch für ihre Verbündeten oder Parteimitglieder abstimmen, sondern sie sollten prüfen, wer am besten für die jeweilige Aufgabe qualifiziert und geeignet ist. Danach sollten diejenigen, die gewählt wurden und denen die Geschäfte der Regierung oder die Macht übertragen wurden, ihre Aufgaben mit Ehrlichkeit, Integrität und Gerechtigkeit wahrnehmen.
Diese Lehre ist das Modell der Demokratie, die der Islam favorisiert. In jeder Gesellschaft gibt es gegenseitige Verantwortungen und Verpflichtungen, die allen Bürgern übertragen worden sind. Für eine erfolgreich funktionierende Gesellschaft ist es sowohl für normale Bürger als auch für die Führer notwendig, ihre Verantwortungen zueinander mit wahrer Gerechtigkeit zu erfüllen.«

Die Wahl als moralische Pflicht
In einem demokratischen System haben Bürger die Möglichkeit, diejenigen zu wählen, die sie für am fähigsten und gerechtesten halten. Islamische Quellen betonen, dass diese Entscheidung nicht leichtfertig getroffen werden sollte. Es gilt, Kandidaten und Parteien nach ihren Programmen, Charaktereigenschaften und Taten zu bewerten. Der Prophet Muhammad (Friede und Segen seien auf ihm) warnte zugleich:

„Wenn die Autorität den Unwürdigen anvertraut wird, dann erwartet das Jüngste Gericht.“ (Bukhari, Hadith Nr. 59)

Diese Aussage mag angesichts der aktuellen politischen Landschaft ihre prophetische Natur entfalten. Sie verdeutlicht in erster Linie aber die ernste Verantwortung, die mit politischer Entscheidungsfindung verbunden ist. Eine Wahlentscheidung aus Bequemlichkeit oder rein persönlicher Befindlichkeit ohne Berücksichtigung des Gemeinwohls kann aus islamischer Sicht höchst problematisch sein.

Islamische Werte in der politischen Entscheidungsfindung
Muslime sollten ihre Wahlentscheidung auf grundlegende Werte stützen, die im Islam eine zentrale Rolle spielen. Im Feld der Politik gehören dazu vor allem Gerechtigkeit (ʿadl), Redlichkeit (ṣidq), Verantwortung (masʾūliyya) und der Schutz der Schwachen (raḥma). Die Frage sollte also sein: Unterstützt die Partei oder der Kandidat eine gerechte Gesellschaftsordnung für alle? Halten Politiker ihre Versprechen und sind sie ehrlich in ihren Aussagen? Übernehmen die Kandidaten Verantwortung für ihr Handeln und setzen sie sich für Minderheiten, Arme und Schutzbedürftige ein?

Regierungsform und islamische Partizipation
Einige Muslime stehen der Demokratie kritisch gegenüber, da sie nicht direkt einem islamischen Regierungsmodell entspreche. Jedoch zeigt die islamische Geschichte, dass politische Systeme variieren können, solange sie Gerechtigkeit gewährleisten und das Gemeinwohl fördern. Das islamische Prinzip der Schūrā (Beratung) legt nahe, dass Führungsentscheidungen nicht autokratisch, sondern durch gemeinschaftlichen Konsens getroffen werden sollten. Während das Kalifat eine historische Regierungsform war, gibt es in der islamischen Lehre keine starren Vorgaben für eine einzige, unveränderliche Regierungsstruktur. Die heutige Demokratie bietet Muslimen die Möglichkeit, ihre Interessen zu vertreten und für gerechte Politik einzutreten.

Was tun, wenn keine Option überzeugt?
Viele Menschen sehen sich heute der Situation ausgesetzt, dass sie unter redlichen Kriterien niemanden mehr für wählbar halten. Aber sollte in solchen Fällen auf politische Teilhabe verzichtet werden? Es gibt mehrere mögliche Ansätze, dies zu vermeiden:

Das geringere Übel wählen: Auch wenn keine Option ideal erscheint, kann es sinnvoll sein, sich für die am wenigsten problematische Alternative zu entscheiden, um Schlimmeres zu verhindern. Dieses Prinzip des Geringeren Übels (akhaf aḍ-ḍararayn) wird auch in der islamischen Rechtswissenschaft herangezogen. Der berühmte Gelehrte Ibn Taymiyya betonte, dass es in Fällen, in denen keine vollkommen gerechte Option existiert, klüger ist, diejenige zu wählen, die das geringste Unrecht verursacht und dem Gemeinwohl am ehesten dient.

Aktive Mitgestaltung: Wer unzufrieden mit den bestehenden Parteien ist, kann sich selbst politisch engagieren, sei es durch Bürgerinitiativen, Dialog oder sogar die Gründung neuer Bewegungen.

Protest durch Wahlverhalten: Eine ungültige oder leere Stimme kann als Zeichen des Protests gewertet werden, sollte jedoch mit Bedacht eingesetzt werden, um nicht ungewollt extremen Kräften Raum zu geben.

Aktive Beteiligung statt Passivität
Ein weit verbreiteter Irrtum ist, dass Muslime sich aus politischen Prozessen heraushalten sollten, da die derzeitigen politischen Systeme nicht mit islamischen Regierungsmodellen identisch wären. Doch die islamische Geschichte zeigt, dass Muslime stets aktiv an gesellschaftlichen Entwicklungen beteiligt waren. Der Prophet Yusuf (Joseph, Friede sei auf ihm) übernahm eine hohe politische Position im ägyptischen Regierungssystem, obwohl es nicht von seinem Glauben geprägt war. Sein Beispiel ist ein qur’anisches Zeugnis, wonach auch Muslime in nicht-islamischen Regierungssystemen Verantwortung übernehmen können, um Gutes zu bewirken.

Auch die Bundestagswahl 2025 bietet also wieder eine Gelegenheit, universelle Werte wie Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und menschliche Verantwortung in die Praxis umzusetzen. Die Wahlbeteiligung sollte sowohl als moralische als auch religiöse Verpflichtung verstanden werden, um das Beste für die Gesellschaft zu fördern. Jeder Muslim trägt mindestens genauso wie jede andere Person in Deutschland eine Verantwortung – nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine Mitmenschen. Die richtige Wahl aus islamischer Sicht zu treffen bedeutet, sich umfassend zu informieren und aus bewusster Überzeugung heraus für das Gemeinwohl zu handeln.

Seine Heiligkeit Hadhrat Mirza Masroor Ahmad (aba) sagte zu dem Thema in seinem Vortrag an der Universität York in Kanada:

»Die Bürger aller Nationen sollten versuchen, jene Leute für ihre Parlamente oder Versammlungen zu wählen, von denen sie annehmen, dass sie für die Verbesserung und für den Fortschritt ihrer Nation arbeiten werden. Dies sollte das Leitprinzip bei der Wahl für Einzelpersonen oder für bestimmte Politik sein, anstatt ausschließlich dem Kurs der Partei oder persönlichen Beziehungen zu folgen. Wenn die Führer eines Landes solche sind, die wirklich um den Fortschritt ihres Volkes bestrebt sind, anstatt korrupt zu sein, und die sich nicht auf egoistische persönliche Interessen konzentrieren, dann gibt es keinen Grund für die Bürger, sich gegen ihre Regierungen aufzulehnen oder für Bürgerkriege oder für aufkommende Konflikte.«

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