
von Tariq Mahmood, Kanada
Nicht alle Feiertage sind fröhlicher Natur – manche erinnern an glückliche Ereignisse, andere hingegen an tragische Geschehnisse.
Der Monat Muharram – der erste im islamischen Kalender – steht im Zwiespalt zwischen Triumph und Tragödie: Er vereint einerseits Momente des Sieges und Jubels, andererseits solch verheerende Ereignisse, die unauslöschliche Spuren in der islamischen Geschichte hinterlassen haben.
So ist der Monat beispielsweise bekannt für den Tag von Aschura – jener Tag, an dem MosesAS durch Gottes Hilfe über den Pharao obsiegte. Aus diesem Grund fasten viele Muslime an diesem Tag. Gleichzeitig ist es aber auch der Monat, in dem der Enkelsohn des Heiligen Propheten MuhammadSAW den Märtyrertod erlitt. Dies ist die Tragödie von Kerbela, die Jahrzehnte nach dem Tod des Heiligen ProphetenSAW im heutigen Irak geschah.
Die Tragödie von Kerbela
Nach dem Ableben des Heiligen Propheten MuhammadSAW folgten ihm die vier Rechtgeleiteten Kalifen (Nachfolger). Nach dem Tod des Vierten Kalifen, Hadhrat AliRA, wurde ein Gefährte namens Amir MuawiyaRA zum König. Es ist wichtig, zwischen einem »Rechtgeleiteten Kalifen«, der durch Konsens gewählt wurde und dessen Führung sich auf den Grundsätzen des Prophetentums stützt, und einem König zu unterscheiden, der ohne demokratische Wahl an die Macht gelangt. Als Amir MuawiyaRA die Macht übernahm (ohne den gebotenen Wahlvorgang), versuchte der ältere Enkel des Heiligen ProphetenSAW, Hadhrat HasanRA, die Frage nach dem Anspruch auf die rechtmäßige Autorität über die Muslime zu klären. Er traf sich mit Amir MuawiyaRA, und beide kamen überein, dass nach dessen Tod wieder ein demokratischer Prozess zur Führung der Muslime stattfinden sollte.
Doch Hadhrat HasanRA starb vor Amir MuawiyaRA. Dieser bestimmte vor seinem eigenen Tod dann seinen Sohn Yazid zu seinem Nachfolger – entgegen der getroffenen Vereinbarung. In diesem Sinne war Yazid wie sein Vater nur ein weltlicher König (ohne religiöse Legitimität und damit kein Rechtgeleiteter Kalif).[1]
Als Hadhrat HusainRA, der jüngere Enkel des Heiligen ProphetenSAW, von Yazids unrechtmäßiger Thronbesteigung erfuhr, wies er diese sofort zurück. Er reiste mit seiner Familie nach Irak, um sich mit Anhängern zu treffen. Sein Handeln war dabei keineswegs ungehorsam oder rebellisch, sondern sein Versuch, den Frieden zu wahren. Auch viele andere Gefährten der damaligen Zeit weigerten sich, Yazid die Treue zu schwören.
Doch Yazids Truppen rückten vor und schnitten HusainsRA Karawane auf dem Weg nach Irak ab. Hadhrat HusainRA erklärte erneut, dass er keinen Krieg wolle – er bat darum, seine Lebenstage in Gebeten verbringen zu dürfen, oder auf das Schlachtfeld geschickt zu werden, um zu kämpfen und als Märtyrer zu sterben; oder zumindest mit Yazid sprechen zu können, um Missverständnisse zu klären.
Die Armee von Yazid jedoch ließ ihnen keine andere Option, als sich zu verteidigen. 4000 Soldaten griffen die kleine Gruppe von Imam HusainRA an. Alle 72 Männer wurden auf brutalste Weise getötet. Insbesondere dieser Enkel des Heiligen ProphetenSAW erlitt 45 Pfeilwunden sowie zahlreiche Hiebe durch Schwerter und Speere. In einem Akt völliger Verderbtheit wurde sein Leichnam von den Pferden der Soldaten zertreten und sein Kopf abgetrennt. Insgesamt fielen 20 Familienmitglieder des Heiligen Propheten MuhammadSAW dem Massaker zum Opfer.
Seine Heiligkeit Hadhrat Mirza Masroor AhmadABA zeichnet ein aufschlussreiches Bild der Tragödie von Kerbela, indem er erklärt, was es damals in jener Wüstenstadt wirklich hieß, als Sieger hervorzugehen. Er sagt:
»Hadhrat Imam HusainRA hatte ein Ziel: Es ging ihm nicht um Herrschaft, sondern darum, das Recht und die Wahrheit durchzusetzen – und genau das tat er. Hadhrat Musleh Mau’udRA [der Zweite Kalif der Ahmadiyya Muslim Gemeinde] hat hervorragend erläutert, wie Hadhrat Imam HusainRA für das Prinzip eintrat, dass das Recht zur Wahl eines Kalifen beim Volk des Landes liegt – bei der Gemeinschaft. Kein Sohn kann sich nach dem Tod seines Vaters dieses Recht als Erbe aneignen. Er sagte, dass dieses Prinzip auch heute noch genauso heilig ist wie damals – ja, der Märtyrertod von Hadhrat Imam HusainRA hat dieses Recht sogar noch deutlicher hervorgehoben. So war es Hadhrat Imam HusainRA, der Erfolg hatte – nicht Yazid.«[2]
Die Lehren aus Muharram
Aus diesem Grund sollte Muharram nicht wie ein weltlicher Feiertag gefeiert werden. Zwar erinnert er an den schmerzlichen Aspekt des Märtyrertods von Hadhrat HusainRA – ein Ereignis, das zu tiefer Trauer bewegt –, doch darf diese Trauer nicht Oberhand gewinnen. Vielmehr sollte sie uns dazu anregen, mit frommen Absichten nach vorne zu schauen, weiterzumachen und uns spirituell zu optimieren.
Ob durch das Vorbild von Hadhrat Imam HusainRA, dem Heiligen Propheten MuhammadSAW oder MosesAS – Muharram erinnert uns daran, dass wir stets auf der Seite der Gerechtigkeit stehen und unsere eigene moralische Haltung verbessern sollten, sodass wir diesen mutigen Männern Gottes nacheifern können.
Wenn Muslime der Tragödie von Hadhrat HusainsRA Tod gedenken, sprechen sie Segenswünsche für den Heiligen Propheten MuhammadSAW – jenen Mann, der durch die Offenbarung des Heiligen Qur’an und seine eigenen Handlungen den Weg zur Gerechtigkeit wieder ebnete. Seine Heiligkeit Hadhrat Mirza Masroor AhmadABA erklärt die Verbindung zwischen diesen scheinbar unterschiedlichen Sphären:
»Wenn der Monat Muharram uns etwas lehren soll, dann dies: dass wir stets durūd (Segensgebete) auf den Heiligen ProphetenSAW und seine Familie sprechen sollen; dass wir durch durūd, Gebete und reine Veränderungen unsere Rolle bei der Verwirklichung der Ziele des Imams dieses Zeitalters wahrnehmen, und gleichzeitig standhaft gegenüber jenen Menschen bleiben, die die Eigenschaften Yazids in sich tragen.«[3]
Dies ist die Essenz dessen, was es bedeutet, sich mit dem ProphetenSAW des Islam zu verbinden: Muslime müssen versuchen, ihm nachzueifern, um Gerechtigkeit, Güte und Brüderlichkeit zu verkörpern. Jeder Muslim sollte sich fragen: Bin ich im Monat Muharram ein besserer Mensch geworden? Habe ich das Gerechtigkeitsbewusstsein verinnerlicht, das der Heilige ProphetSAW verkörperte? Wenn nicht, dann bringen uns allein oberflächliche Rituale nicht zu Gott und Seiner Religion.
Die sich im Muharram zugetragenen Ereignisse lehren uns: Man muss Mut beweisen im Angesicht von Ungerechtigkeit. MosesAS hätte dem Pharao gegenüber nachgeben können, doch er forderte die Freiheit seines Volkes – selbst unter Lebensgefahr. Auch Hadhrat HusainRA hätte Yazid anerkennen können, doch er entschied sich dafür, zu einem Symbol für Gerechtigkeit, Frieden und Wahrheit zu werden, das die Muslime brauchten. Deshalb erinnert man sich bis heute an diese Männer als Botschafter der Wahrheit – während ihre Widersacher als mahnende Beispiele für Tyrannei und Barbarei in die Geschichte eingegangen sind.
Der Monat Muharram ist mehr als nur eine Erinnerung an die Vergangenheit. Er soll auch unsere Gegenwart und unsere Zukunft stärken. Wenn Muslime in diesem Monat lediglich vergangener Tragödien gedenken, ohne eine Veränderung in sich selbst herbeizuführen – wer wird dann verhindern, dass sich Ungerechtigkeit erneut ereignet?
Nur die Weisen lernen aus der Geschichte. Muharram ist ein Monat der Lektionen: Jede muslimische Generation muss sich erneut mit Gott und Seinem ProphetenSAW verbinden, und muss lernen, in der Not Mut zu zeigen und sich auch für andere einzusetzen. Erst dann wird Muharram, der Monat der Aufopferung, wahrhaft zelebriert.
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Fußnoten
[1] Vgl. Hadhrat Mirza Bashiruddin Mahmud AhmadRA, Khilāfat-e-Rāshidah, S. 189–190.
[2] Freitagsansprache Seiner Heiligkeit Hadhrat Mirza Masroor AhmadABA vom 10. Dezember 2010.[3] Freitagsansprache Seiner Heiligkeit Hadhrat Mirza Masroor AhmadABA vom 10. Dezember 2010.
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