Geschichtliches Islam

Ist der Islam antisemitisch?

»O ihr Menschen, Wir haben euch von Mann und Frau erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, dass ihr einander kennen möget.« (Der Heilige Qur'an)

von Adeel Khalid

Die Zeit ist geprägt von globalen Konflikten und geopolitischen Spannungen. Aufgrund des neu entbrannten Nahostkonflikts wird vermehrt die Frage aufgeworfen, ob der Islam und die Muslime antisemitisch veranlagt sind. Ist diese Annahme gerechtfertigt? Lassen der Heilige Qur’an und das Vorbild des Heiligen Prophet Muhammad (saw) tatsächlich Antisemitismus zu?

Um das Thema zu verstehen, ist es zunächst wichtig, auf die Definition von Antisemitismus einzugehen. Diese hat sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte immer etwas verändert. Man spricht von christlichem Antisemitismus, völkischem Antisemitismus, latentem Antisemitismus, vom islamistischen Antisemitismus oder auch vom ökonomisch bezogenen Antisemitismus. Bei letzterem unterstellt man Juden, sie würden Wucher betreiben usw. Als Oberbegriff kann man Antisemitismus folgendermaßen definieren: Jegliche Feindschaft gegen Juden aufgrund ihres Judenseins oder aufgrund der Tatsache, dass sie sich dem Judentum zugehörig ansehen. Darunter fallen dann Beleidigungen, brachiale, verbale Angriffe, oder auch die Tatsache, dass man diesem Volk oder den Juden gewisse Eigenschaften zuschreibt und Absichten unterstellt und diese so stereotypisiert. All das ist Teil dieser Antisemitismus-Definition.

Wie gesagt, wird derzeit oftmals behauptet, dass der Antisemitismus auch als in der islamischen Lehre verankert sei. Doch diese Behauptung basiert auf fehlenden Kenntnissen über die islamische Lehre seitens der Nicht-Muslime, doch sind auch viele Muslime diesem Irrtum zum Opfer gefallen.

Die islamische Lehre
Der Qur’an selbst spricht in verschiedenen Zusammenhängen von den Juden. Der Begriff »Ahlu l-kitāb« (Volk der Schrift) wird im Qur’an für die Juden verwendet. Dieser Titel gilt auch für die Christen, ist jedoch in erster Linie auf die Juden bezogen. Er wird im Qur’an als ehrenwerter Titel vergeben und würdigt die Tatsache, dass Propheten zu diesem Volk gesandt wurden, um die Botschaft Gottes zu übermitteln. Der Qur’an erwähnt auch die Tugenden sowie die Verfehlungen der Juden. Somit spricht Gott im Qur’an immer differenziert von den Juden, wenn Er diese kritisiert, aber ganz allgemein gehalten werden die Juden im Qur’an mit dem Titel »Ahlu l-kitāb« geehrt.

»Bani Israel« (Kinder Israels) ist ein weiterer Begriff, der für Juden im Qur’an verwendet wird. Allah beschreibt in einem Vers, wie Er den Kindern Israels das Buch und das Prophetentum gab und ihnen Wohlstand und Gunst zuteilwerden ließ. »Wir gaben den Kindern Israels die Schrift und die Herrschaft und das Prophetentum, und Wir versorgten sie mit guten Dingen und bevorzugten sie vor den Völkern.« (45:17) Der Qur’an betont hier die erhabene Stellung dieser Glaubensgemeinschaft und verfolgt alles andere als antisemitische Propaganda.

Der Qur’an weist auch darauf hin, dass es unter den Angehörigen der Schrift solche gibt, die glauben, und solche, die dies ablehnen. So heißt es zu Beginn der 98. Sure des Qur’an: »Die ungläubig sind unter dem Volk der Schrift und den Götzendienern, konnten (von ihrem Irrtum) nicht eher befreit werden, als bis ein deutlicher Beweis zu ihnen kam: Ein Gesandter von Allah, der (ihnen) die reinen Schriften vorliest.« (98:2–3)

Dieser Vers verdeutlicht, dass es unter dem Volk der Schrift immer solche gab, die die Botschaft Allahs nicht akzeptiert haben, bis ganz offenkundige Beweise zu ihnen kamen. Dann heißt es weiter im siebten Vers der gleichen Sure: »Wahrlich, jene, die ungläubig sind unter dem Volk der Schrift und den Götzendienern, werden im Feuer der Hölle sein, um darin zu bleiben. Sie sind die schlechtesten Geschöpfe.« (98:7)

Daraus entnehmen einige, dass hier ganz klar eine Art Dehumanisierung stattgefunden habe, dass man dem Volk der Schrift das Menschsein abgesprochen habe, oder sie zu den schlechtesten Geschöpfen gemacht habe. Aber der Qur’an hat hier ganz klar eine bestimmte Gruppe eingegrenzt, indem er die Eigenschaften eben jener anführt, nämlich jene, die die Wahrheit und die Botschaft Allahs ablehnen. Im darauffolgenden achten Vers heißt es nämlich: »Die aber glauben und gute Werke üben, sie sind die besten Geschöpfe.« (98:8) Nun, wenn der Qur’an von negativen Eigenschaften der Juden spricht, dann immer von bestimmten Juden, die bestimmte Attribute aufwiesen, die bestimmte Dinge, wie die Wahrheit von Allah, abgelehnt haben. Vor allem für die Muslime steckt in diesen Versen indes eine Ermahnung, nicht dem gleichen Schicksal zu verfallen.

Es ist hier auch wichtig zu betonen, dass der Qur’an niemals die Menschen dazu auffordert, eigenmächtig Strafen für eine Haltung des Unglaubens zu verhängen. Stattdessen wird im Qur’an erklärt, dass Allah Selbst diejenigen bestrafen wird, die Seine Botschaft ablehnen. Viele würden dies heute als Schicksal oder Naturgesetz bezeichnen.

Dann gibt es weitere Verse im Heiligen Qur’an, worin auch von den »Ahlu l-kitāb« gesprochen wird, beispielsweise die Verse 69 und 70 der fünften Sure:

»Sprich: ›O Volk der Schrift, ihr fußet auf nichts, ehe ihr nicht die Thora und das Evangelium befolgt und das, was zu euch herabgesandt ward von eurem Herrn.‹ Aber gewiss, was von deinem Herrn zu dir hinabgesandt ward, wird gar viele von ihnen zunehmen lassen an Aufruhr und Unglauben; so betrübe dich nicht über das ungläubige Volk.

[Doch] wahrlich jene, die geglaubt haben, und die Juden und die Sabäer und die Christen – wer da an Allah glaubt und an den Jüngsten Tag und gute Werke tut –, keine Furcht soll über sie kommen, noch sollen sie trauern.« (5:69–70)

In diesen Versen wird der Prophet Muhammad (saw) angesprochen und es wird zu ihm gesagt, er solle sich nicht über jene des Volkes der Schrift grämen, welche ungläubig sind oder rebellieren, nachdem sie seine Botschaft erhalten haben. Im darauffolgenden Vers wird dann klar erwähnt, dass über die Juden, Christen, Sabäer und all jene, die an Allah und den Jüngsten Tag glauben und gute Taten ausüben, Allah Selbst richten wird. 

Allah spricht hier über jene Personen des Volkes der Schrift, die aufrichtig leben, die gerecht leben und die nicht offenkundige Zeichen Gottes ablehnen, zu denen eventuell auch gar keine offenkundige Beweise Gottes gekommen sind, aber die trotzdem ein frommes, gerechtes und moralisches Leben führen. All jene können dem Qur’an nach auch ins Paradies kommen. Und das ist auch eine Lehre des Islam, die man in anderen Religionen nicht wiederfindet, nämlich dass auch jene errettet werden und Erlösung erfahren können, die nicht die Botschaft des Islam bekommen oder verstanden haben.

Das prophetische Vorbild
Die Sunna (Praxis) und die Ahadith (Aussagen) des Propheten Muhammad (saw) bieten weitere Einblicke in seine Beziehung zu den Juden. Nach seiner Ankunft in Medina wurde der Prophet Muhammad (saw) von verschiedenen Stämmen, darunter auch jüdische, zum Stadtoberhaupt gewählt. Diese Stämme erwarteten sich, dass er ihre Konflikte gerecht lösen würde. Schon vor seiner Prophetenschaft genoss Muhammad (saw) indes schon den Ruf eines aufrichtigen und gerechten Mannes.

Es gab daraufhin historisch dokumentierte Ereignisse, bei denen jüdische Stämme in Medina den Vertrag mit den Muslimen brachen und sich gegen sie verschworen. Dies führte zu Konflikten, die aufgrund des Vertragsbruchs und nicht aufgrund der religiösen Lehren entstanden.

Nachdem beispielsweise einmal ein solcher jüdischer Stamm des Verrates überführt wurde, wurden deren Anführer gefragt, ob das Urteil über sie nach mosaischem oder islamischem Gesetz erfolgen solle, woraufhin sie sich für das mosaische Gesetz entschieden. Dies sah für die Männer unter ihnen die Todesstrafe vor, während sie nach islamischer Rechtssprechung hätten begnadigt werden können. Der Prophet bedauerte den Überlieferungen zufolge diese Entscheidung sehr. Aus anderen Überlieferungen des Lebens des Propheten (was) geht auch klar hervor, dass er durchaus freundschaftliche Beziehungen zu Juden pflegte.

Der Heilige Prophet Muhammad (saw) strebte grundsätzlich danach, Konflikte zu vermeiden und in friedlicher Koexistenz mit anderen Gemeinschaften zu leben. Er versuchte oft, Missverständnisse aus dem Weg zu räumen und respektvoll auf die Anliegen der jüdischen Gemeinschaft einzugehen. In Medina entstand einst ein Konflikt zwischen einem jüdischen Mann und einem Muslim, der die Spannungen zwischen den beiden Gemeinschaften verschärfte. Die Kontroverse entzündete sich an der Frage, welcher Prophet, Moses (as) oder Muhammad (saw), einen höheren Stellenwert innehatte. Als der Heilige Prophet (saw) von diesem Vorfall erfuhr, zeigte er eine bemerkenswerte Reaktion. Statt zu versuchen, den Juden zu belehren, ermahnte er den Muslim, dass dies nicht seine Aufgabe sei, über die Stellung der Propheten zu debattieren. Dem Juden zugewandt, gestand er diesem die hohe Auszeichnung des Propheten Moses (as) zu.

Selbst in einer lebensbedrohlichen Situation zeigte der Heilige Prophet Muhammad (saw) außergewöhnliche Gnade und Nachsicht. Eine jüdische Frau versuchte, den Propheten (saw) zu vergiften, indem sie Gift in das Fleisch von Ziegenkoteletts mischte, von denen sie wusste, dass er sie gerne aß. Der Prophet (saw) nahm von diesem Fleisch und gab seinem Begleiter ebenfalls davon. Auch die anderen Gefährten waren bereit zu essen. Als der Prophet (saw) jedoch den Geschmack des vergifteten Fleisches bemerkte, hielt er die anderen zurück und sagte, dass das Fleisch vergiftet sei.

Der Gefährte, der bereits davon gegessen hatte, wurde daraufhin krank und starb später. Es wurde nach der Frau geschickt, die schließlich ihre Tat gestand. Als Muhammad (saw) nach dem Grund für ihr Handeln fragte, erklärte sie, dass sie Rache für ihre im Krieg getöteten Verwandten nehmen wollte und glaubte, dass sein Schicksal darüber entscheiden würde, ob er ein wahrer Prophet oder ein Betrüger sei. Obwohl die jüdische Frau aufgrund ihres schweren Verbrechens damals die Todesstrafe verdient hätte, entschied der Heilige Prophet (saw), ihr zu vergeben.

Eine dritte bekannte Begebenheit ist die Geschichte darüber, als durch Medina eine Totenprozession zog. Der Heilige Prophet MuhammadSAW, so wird überliefert, stand sofort aus Respekt auf. Seine Gefährten beschwichtigten ihn, sitzen zu bleiben: »Es ist nur ein Jude gestorben«, sagten sie. »Ist ein Jude denn kein Mensch?«, erwidert der Heilige ProphetSAW und blieb stehen. 

Wie auch immer, lässt sich anhand gewisser Handlungen und Maßnahmen nicht generalisieren, dass der Islam Feindschaft gegen Juden propagieren würde. Im Gegenteil dazu hat der Islam eine Lehre der Verständigung gelehrt. Dazu sei hier ein letztes Zitat aus dem Heiligen Qur’an angeführt, wo alle Menschen angesprochen werden mit:

»O ihr Menschen, Wir haben euch von Mann und Frau erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, dass ihr einander kennen möget. Wahrlich, der Angesehenste von euch ist vor Allah der, der unter euch der Gottesfürchtigste ist. Siehe, Allah ist allwissend, allkundig.« (49:14

Dies ist nur eine sehr begrenzte Auswahl die zeigen soll, dass die islamischen Lehren keinen Raum für Antisemitismus bieten. Die kritisch aufgefassten Stellen im Qur’an beziehen sich immer auf spezifische Verhaltensweisen und nicht auf die jüdische Religion als solche. Der Prophet Muhammad (saw) pflegte während seines Lebens gute Beziehungen zu Juden und handelte nicht aus antisemitischen Motiven. In einer Zeit, worin der interreligiöse Dialog von großer Bedeutung ist, sollten Vorbehalte überwunden und das gegenseitige Verständnis gefördert werden, um einen friedlichen Zusammenhalt zu ermöglichen.

Aktuelle Freitagsansprache

Multimedia

Neueste Kommentare

Archiv