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9 Monate Sterben in Gaza: Wir brauchen einen neuen Konsens

Statt über das Leid in Gaza zu sprechen, möchte man in Berlin Tänze und Fußballspiele zwischen Juden und Muslimen organisieren. Bis das Fass überläuft?
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von Scharjil Khalid

*dieser Artikel wurde ursprünglich für die Berliner-Zeitung verfasst. Mit ihrer freundlichen Genehmigung wird er hier für die Leserinnen und Leser der Revue der Religionen nochmals veröffentlicht.

In den letzten Tagen und Wochen haben zahlreiche internationale Institutionen Israels barbarisches Morden in Gaza aufs Schärfste verurteilt. Man sollte meinen, dass nach solch unmissverständlichen Verurteilungen von höchsten diplomatischen Gremien, Institutionen und Gerichten wie dem IGH, IStGH und der UN, Deutschland einen deutlichen Paradigmenwechsel vollziehen würde. Stattdessen offenbart die Untätigkeit unserer Politik weiter die fragwürdige Haltung der Bundesrepublik gegenüber Demokratie und Menschenrechten.

Als sich im März 2024 vierzig deutsche Chefärzte und Chirurgen bereit erklärten, 32 Kinder aus Gaza aufzunehmen und kostenlos zu behandeln, verweigerte das Bundesinnenministerium die Einreise, aus Angst davor, Terroristen oder Asylbewerber ins Land zu holen. Inzwischen ist ein Großteil dieser Kinder entweder tot oder nicht mehr auffindbar. Die Reaktion der Innenministerin auf der Bundespressekonferenz spricht Bände: Sie bezweifelte die Anzahl der verletzten Kinder und lehnte jegliche Verantwortung für die Situation ab.

Und was macht unsere Außenministerin? Mit Blick auf die ermordeten Kinder im Ukraine-Krieg forderte sie im Februar 2023 vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf sehr deutlich: „Wir müssen ihre Namen aussprechen und ihre Rechte fördern. Und wir müssen die Täter beim Namen nennen.“ Während UN-Generalsekretär António Guterres bereits im November 2023 warnte, dass „Gaza zu einem Friedhof für Kinder wird“, warten wir nach über neun Monaten Krieg in Gaza immer noch darauf, dass Frau Baerbock die Namen der 14.500 getöteten, 21.000 vermissten und 700.000 vertriebenen Kinder in Gaza ausspricht und ihre Rechte verteidigt. Vor allem warten wir darauf, dass Frau Baerbock endlich die Täter beim Namen nennt.

Die Täter beim Namen nennen kommt jedoch nicht in Frage, auch nicht in Berlin, wo mit 45.000 Palästinensern die größte palästinensische Gemeinschaft Europas lebt. Man bemüht sich um Dialog und Verständigung, verkennt jedoch des Pudels Kern. Statt das Problem an der Wurzel zu packen und das Kind beim Namen zu nennen, setzt man auf Strategien, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Man möchte nicht über das Leid in Gaza sprechen; das ist zu emotional. Stattdessen möchte man gemeinsame Tänze, Fußballspiele und Dialog zwischen Juden und Muslimen organisieren. 
Es ist ohnehin irreführend, den Krieg in Gaza auf Muslime zu reduzieren, denn auch Christen sind von der Brutalität der ultrarechten israelischen Regierung betroffen. Jeder, der die vergangene Weihnachtspredigt von Pastor Munther Isaac im besetzten Bethlehem gehört hat, weiß, wie stark auch Christen in Gaza leiden. Bei israelischen Angriffen wurden drei Kirchen in Gaza zerstört.

Die gut gemeinte Strategie der Begegnung und des Dialogs verkennt den eigentlichen Elefanten im Raum: das immense Leid, die Trauer und die Fassungslosigkeit über den ungeahndeten Massenmord in Gaza. Echter Dialog ist ein Anstoß zum Verstehen und Verständnis. Der Dialog Berlins verhindert jedoch jegliches Verstehen. Durch Tanzen und Spielen lösen wir die große Entfremdung in der Bevölkerung nicht, wir verdrängen sie bestenfalls.
Etliche Berliner haben dutzende Angehörige in Gaza verloren. Diese tiefe Trauer zu unterdrücken, führt zu unbeschreiblichem Frust und psychischer Belastung.

Sigmund Freud sah Verdrängung als Abwehrmechanismus, bei dem unverarbeitete Emotionen unterschwellig brodeln und jederzeit ausbrechen können. Deshalb führte er das Konzept der freien Assoziation ein, um verdrängte Gedanken und Gefühle ins Bewusstsein zu bringen und sie offen anzusprechen. 
Offenes Ansprechen und Tacheles reden ist genau das, was die Menschen in Berlin jetzt wollen und brauchen. 

Nach fast 40.000 toten und mehr als 89.000 verletzten Palästinensern möchten sie – zumindest – einen neuen Diskurs. Sie möchten einen Paradigmenwechsel mit einem neuen Konsens. Um diesen Konsens zu finden, müssen wir einen offenen und rationalen Diskurs führen, wie es beispielsweise der Philosoph Jürgen Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns fordert. 
Die ideale Sprechsituation nach Habermas ist jene, in der jeder gleichberechtigt am Diskurs teilnehmen kann und frei von Druck und Zwang seine wirklichen Überzeugungen offen ansprechen kann. Mittels vier Geltungsansprüchen – Verständlichkeit, Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit – bemühen sich die Teilnehmer des Diskurses, einen Konsens zu finden. Im Diskurs werden diese Ansprüche hinterfragt und durch Argumentation geprüft, um eine Einigung über ihre Gültigkeit zu erzielen. Verständigung ist erst dann erreicht, wenn alle Teilnehmer den Geltungsansprüchen einer Aussage zustimmen können. Andernfalls müssten die Geltungsansprüche im Diskurs geklärt werden. Kurzum: Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns betont einen offenen, fakten- und evidenzbasierten Austausch.

Der erste Schritt, um diesen zu realisieren, ist die Überwindung der gegenwärtigen Empörungs- und Etikettierungskultur sowie die Versachlichung von Begriffen, die in der Bevölkerung seit Monaten in aller Munde sind. Viele sehen inzwischen einige rechtliche Legitimationen, um Reizwörter wie Apartheid und Genozid zu verwenden. Wir können uns darüber empören und somit den Diskurs abwürgen, oder aber wir stellen uns den gesellschaftlichen Realitäten und wagen einen offenen und rationalen Diskurs. 

Nachdem der IGH unzweideutig erklärt hat, dass die seit mehreren Dekaden andauernde Besatzung durch Israel illegal ist und gegen Artikel 3 der Internationalen Konvention zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (CERD) verstößt, bleibt uns keine Wahl, als über diese Begriffe offen zu diskutieren. Hinzu kommt, dass am 9. Juli 2024 elf unabhängige UN-Experten in Genf die Hungersnot in Gaza als „vorsätzliche und gezielte Hungerkampagne gegen das palästinensische Volk durch Israel“ bezeichneten. Sie ergänzten, dass es „eine Form von genozidaler Gewalt“ sei, und stützten damit den Gerichtsbeschluss zur Anklage Südafrikas, der im Absatz 54 die Anhaltspunkte für einen Genozid als „plausibel“ einstuft. 
Über die Ausführungen der elf UN-Experten erklärten übrigens sowohl der deutsche Sprecher des Auswärtigen Amtes, Christian Wagner, als auch Vizeregierungssprecherin, Christiane Hoffmann, dass sie keinen Zweifel an der Einordnung der UN-Experten hegten.

Wenn wir die höchsten Gerichte der Welt wirklich ernst nehmen, muss nun ein offener Diskurs über diese Begriffe möglich sein. Da auf solche Diskussionen aber prompt der Vorwurf des Antisemitismus folgt, müssen wir aber auch rational – wie es Habermas fordert – über unsere Definition und Auslegung von Antisemitismus diskutieren. Die in Deutschland angewandte IHRA-Definition von Antisemitismus ist seit Jahren umstritten. Erstens ist sie problematisch, weil sie Israelkritik mit Antisemitismus gleichsetzt, was besonders im Falle der aktuellen ultrarechten israelischen Regierung verheerend ist. Zweitens ist sie als Arbeitsdefinition nicht rechtsverbindlich. Drittens wird sie auch von vielen jüdischen Wissenschaftlern, genau genommen von 40 jüdischen Organisationen, stark kritisiert. Selbst ihr Autor, Kenneth Stern, sieht sie als missbraucht und ungeeignet für die Antidiskriminierungsklausel in Berlin.

Mit dieser engen Antisemitismus-Definition steht und fällt unsere aktuelle Debattenkultur. Sie verbreitet das Unbehagen und Gefühl, dass kaum noch etwas sagbar ist. Das Bildungsministerium wollte auf Basis dieser IHRA-Definition gar wissenschaftliche Freiheit einschränken. Man nutzte sie als Grundlage für das Bestreben, hunderte Universitätsprofessoren, deren Fördermittel gekürzt oder gestrichen werden sollten, einer Gesinnungsprüfung zu unterziehen. Schließlich hat diese Definition dazu geführt, dass langjährige Brückenbauer dieses Landes, wie die Wissenschaftlerin Naika Foroutan, absurde Diffamierungskampagnen als vermeintliche Antisemiten ertragen mussten. Wenn weiterhin die Antisemitismus-Keule breit geschwungen wird, ist ein offener und rationaler Diskurs unmöglich. Stattdessen wird die dadurch bedingte Verdrängung – wie Freud sagt – Unmut, Frust und Aggression verstärken. 

Berliner Dialogplattformen heben immer wieder den Optimismus hervor. Doch Optimismus braucht Nähe zum Realismus. Realismus wiederum setzt Anerkennung der Realität voraus. Ergo müssen wir uns mit der Realität des Kriegs in Gaza auseinandersetzen. Die Realität ist, dass wir in Gaza die größte humanitäre Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg erleben – und das in Echtzeit. Wenn wir diese Realität ignorieren, sind wir entweder ignorant oder abgestumpft. 

Um dieser Ignoranz entgegenzutreten, werden im Folgenden empirische Daten angeführt, die von verschiedenen Institutionen bestätigt wurden. Schließlich ist die Ignoranz gegenüber der desaströsen Lage in Gaza so weit verbreitet, dass sie sogar bei unserem Kanzler festzustellen ist. Während er sich, ähnlich wie Außenministerin Baerbock, zur Ukraine klar positionierte und im Herbst 2022 vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen erklärte, dass Hunger niemals wieder als Waffe eingesetzt werden dürfe, fällt er bei der gegenwärtigen Hungerkatastrophe in Gaza nur durch sein Schweigen auf.

Anfang Januar 2024 berichtete die UNICEF, dass rund 90% der Kinder in Gaza unter 2 Jahren von schwerer Ernährungsarmut betroffen sind. Eine Umfrage im Mai 2024 ergab, dass 85% der Kinder unter fünf Jahren in Gaza ganze Tage ohne Nahrung verbringen. 17.000 schwangere Frauen sind inzwischen in der Phase extremer Unterernährung (Phase vier von fünf auf der IPC-Skala), 11.000 sogar in der Phase von katastrophaler Unterernährung (IPC-Phase fünf). 
António Guterres beschrieb im März einen Bericht über die integrierte Phasenklassifizierung der Ernährungssicherheit (IPC) und sagte, es sei die „höchste Zahl von Menschen, die von katastrophalem Hunger betroffen sind“, die auf der IPC-Skala seit ihrer Einführung im Jahr 2004 verzeichnet wurde. Der führende Hungerforscher Alex de Waal sagte im März 2024, dass wir „im Begriff sind, Zeugen der intensivsten von Menschen verursachten Hungersnot seit dem Zweiten Weltkrieg zu werden.“

Der Bericht „Water War Crimes“ stellt fest, dass Israels Unterbrechung der externen Wasserversorgung, die systematische Zerstörung von Wasseranlagen und die absichtliche Behinderung der Hilfe die in Gaza verfügbare Wassermenge um 94 Prozent auf 4,74 Liter pro Tag und Person reduziert haben – knapp ein Drittel des empfohlenen Minimums in Notfällen und weniger als eine einzige Toilettenspülung. Israel hat 70 % aller Abwasserpumpen und 100 % aller Kläranlagen sowie die wichtigsten Wasserqualitätsprüflabore in Gaza zerstört und die Einfuhr von Oxfam-Wassertestgeräten eingeschränkt.  

Diese menschenverachtenden Maßnahmen der israelischen Regierung sowie die barbarischen Massenbombardements auf Gaza haben schwerste traumatische Zustände verursacht. Da selbst Schutzzonen wie Khan Yunis von Israel wiederholt angegriffen werden, sind Palästinenser nirgends sicher. Die NGO GCMHP berichtet, dass die Kinder in Gaza „in einer endlosen Tragödie leben.“ Weiter heißt es im Bericht: „Die meisten Kinder in Gaza leiden unter Angstzuständen und Dysphorie, Schlafmangel und zeigen andere Anzeichen von Stress, wie ständiges Zittern und Bettnässen.“ 
Das ist die herzzerreißende, aber logische Konsequenz, wenn die „moralischste Armee der Welt“ auf ein dicht besiedeltes Schutzgebiet wie Khan Yunis fünf 900kg-Bomben wirft, deren Sprengkraft im Umkreis von 300 Metern tödlich ist und die viermal so schwer sind wie die US-Bomben gegen den IS. Statt über die dabei verursachten 70 Toten und 289 Verletzten zu sprechen, werden diese Zivilisten wegen eines einzigen vermeintlich toten Terroristen als Kollateralschaden abgetan.

Wer beim Lesen dieser Fakten, statt Mitleid mit den Palästinensern zu empfinden, beginnt, die Zahlen anzuzweifeln oder mit „aber die Hamas“ zu argumentieren, zeigt nicht nur Ignoranz, sondern auch eine erschreckende Abstumpfung. Eine solche Person hat ihren moralischen Kompass, ja ihre Menschlichkeit verloren. Sodann ist dem jüdischen Sozialphilosophen Zygmunt Bauman in seiner Analyse rechtzugeben, dass in der Moderne Solidarität und Mitgefühl nur Verbündeten entgegengebracht werden. Vermeintliche Fremde oder Außenstehende hingegen werden oft mit Gleichgültigkeit oder sogar Feindseligkeit behandelt.

Das Versprechen der Demokratie, Einheit durch Vielfalt zu gewährleisten und Menschenrechte zu fördern, scheinen wir mit unserer Staatsräson selbst zu begraben. Aber wofür? Für eine ultrarechte Regierung, die sich zwar als einzige Demokratie im Osten rühmt, aber demokratische Prinzipien mit Füßen tritt? Was nützt eine Staatsräson, wenn sie im Inland eine Brandmauer gegen rechts proklamiert, während sie im Ausland mit Ultrarechts kooperiert? Wollen wir ernsthaft unsere Demokratie für eine Regierung aufs Spiel setzen, die Menschenrechte und Demokratie dem Erhalt ihrer Macht opfert? Wie können wir einer Regierung vertrauen, der sogar ihre eigenen Reservisten misstrauen, welche behaupten, dass das, was Israel in Gaza anrichtet, unmoralisch ist?

Bezeichnend für das Demokratieverständnis der israelischen Regierung ist die Reaktion Netanjahus auf das Urteil des IGH über die Illegalität der israelischen Besatzung. Netanjahu wies das Urteil vehement zurück und behauptete: „Keine Entscheidung der Lüge in Den Haag wird diese historische Wahrheit verzerren, ebensowenig kann die Rechtmäßigkeit der israelischen Siedlungen in allen Teilen unseres Heimatlandes angefochten werden.“ Diese Haltung ignoriert und verunglimpft fundamental internationales Recht, für das wir mit unserer „wertegeleiteten Außenpolitik“ angeblich einstehen wollen.

Ein weiteres Zeichen der Missachtung demokratischer Prinzipien ist die wiederholte Ablehnung von Resolutionen des UN-Sicherheitsrates und der UN-Generalversammlung. Seit 1948 wurden über 40 Resolutionen gegen oder über Israel verabschiedet. Eine besonders bemerkenswerte ist die Resolution 2334, die den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten verurteilt. Israel hat diese Resolution scharf kritisiert, als „beschämend“ bezeichnet und ihre Umsetzung abgelehnt. Dies zeigt nicht nur eine konsequente Missachtung internationaler Normen und Institutionen, sondern leider auch, wie machtlos supranationale Organisationen wie die UNO sind. Seine Heiligkeit Mirza Masroor Ahmad, weltweites Oberhaupt und Kalif der Ahmadiyya Muslim Jamaat, bringt es treffend auf den Punkt: „Die Vereinten Nationen sind zu einem schwachen und nahezu machtlosen Gremium geworden, in dem einige wenige dominante Staaten die gesamte Macht ausüben und sich einfach über die Ansichten der Mehrheit hinwegsetzen können.“

Eine weitere Dimension der Ungerechtigkeit ist die unterschiedliche Rechtsanwendung für Israelis und Palästinenser. Während israelische Bürger – einschließlich der Siedler im Westjordanland – durch das israelische Zivilrecht geschützt sind, werden Palästinenser im Westjordanland vor Militärgerichten verurteilt und unterliegen den Militärverordnungen. Menschenrechtsorganisationen wie B’Tselem und Amnesty International berichten, dass sich über 3.000 Palästinenser in administrativer Haft befinden – eine Form der Inhaftierung, die es ermöglicht, Personen ohne formelle Anklage und ohne Verteidigungsmöglichkeiten festzuhalten. Diese Diskriminierung widerspricht dem Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz und offenbart eine eklatante Ungleichbehandlung.

Von einer Zwei-Staaten-Lösung, auf die viele demokratische Länder seit mehreren Jahrzehnten hinweisen, hält die sogenannte einzige Demokratie im Osten wenig bis gar nichts. Kürzlich hat die Knesset deutlich gegen die Schaffung eines palästinensischen Staates westlich des Jordans gestimmt (68 zu neun Stimmen). Netanjahu hat schon mehrfach offen gesagt, dass Gaza für immer in israelischer Kontrolle bleiben solle. Es überrascht daher wenig, dass Polizeiminister Itamar Ben-Gvir ausgerechnet auf dem Tempelberg für die Fortsetzung des Gazakriegs betete. Dass ein Rechtsextremist wie er, der wegen seiner Nähe zur terroristischen Kach-Partei bereits verurteilt wurde, Minister im demokratischen Israel ist, zeigt, wie sehr wir durch unsere bedingungslose Staatsräson unsere eigenen Werte opfern. 

Weist man in Gesprächen auf diese Fakten hin, wird schnell eingewendet, dass wir hier nicht den Nahostkonflikt lösen können und uns daher auf innenpolitische Herausforderungen konzentrieren sollen. Doch Innen- und Außenpolitik sind so eng mit einander verflochten, dass die traumatischen Ereignisse in Gaza breite Teile der Berliner Gesellschaft bis ins Mark erschüttern. Es geht hier nicht darum, den Konflikt zu lösen, sondern um einen ehrlichen und problemorientierten Diskurs. Kein Antisemitismus oder antimuslimischer Rassismus ist so belastend wie das Sterben von Menschen. Mord ist eine Extremform von Rassismus, und genau deswegen müssen wir über den Krieg in Gaza sprechen. Aufgrund der beschämenden Haltung Deutschlands hat die Regierung ihre Glaubwürdigkeit bei vielen Menschen verspielt. Um das Vertrauen in unsere Institutionen und somit auch in unsere Demokratie wiederherzustellen, muss der Diskurs schnellstens und aufrichtig geführt werden. 

Deshalb ist ein Paradigmenwechsel unumgänglich, ein offener Diskurs zwingend erforderlich und ein neuer Konsens längst überfällig. Der bestehende Konsens über die Haltung zur Hamas, die Befreiung der Geiseln und die deutsche Staatsräson müssen erweitert werden. Neun Monate lang wurden insbesondere Muslime im Bekenntniszwang zu diesem Konsens gedrängt. Es ist an der Zeit, dass wir uns alle zu einem neuen Konsens bekennen: Waffenstillstand jetzt, Verurteilung israelischer Kriegsverbrechen, Brandmauer gegen Extremismus im In-und Ausland. 
Im Gegensatz zum bisherigen Konsens soll dieser neue nicht aufgezwungen, sondern im offenen Diskurs erörtert werden.
Denn bei diesem Konsens geht es um mehr als Palästina und Israel; es geht um Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Es geht um unsere Zukunft.

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