
von Tanzeela Khalid
Wenn in diesen Tagen Muslime und Musliminnen weltweit das Opferfest, Eid al-Adha, begehen, erinnern sie sich an eine Szene, die alle drei großen monotheistischen Religionen miteinander verbindet: den Gehorsam Abrahams (as) gegenüber Gott – sogar in der Bereitschaft, seinen Sohn zu opfern.
Abraham – im Islam „Ibrahim“ genannt – gilt im Judentum, im Christentum und im Islam als zentrale Gestalt. Er ist mehr als nur ein Prophet: Er ist der Stammvater der drei Religionen. Auch wenn es einige Unterschiede in den Überlieferungen gibt, so macht diese gemeinsame Verehrung ihn zu einer Brücke zwischen den Religionen.
Abraham im Qur’an und in der Bibel – ein verehrter Prophet
In der Bibel wird Abraham als Mann des Glaubens beschrieben, der ohne Zögern auf Gottes Ruf hin seine Heimat verlässt, ein neues Leben beginnt und zum Vater vieler Völker wird. Die Zusage Gottes, ihn und seine Nachkommen zu segnen, zieht sich wie ein roter Faden durch die Genesis.
Im Heiligen Qur’an ist Abraham ein Vordenker und der Wegbereiter des Monotheismus, der sich von der Götzenverehrung seines Volkes lossagt. Er stellt sich kritisch mit dem Götzendienst seines Umfelds und Volkes auseinander, stellt die Götzen seiner Zeit auf kluge und herausfordernde Weise in Frage, bringt ihre Machtlosigkeit mit einem symbolischen Akt ans Licht – und wird dafür ins Feuer geworfen, überlebt jedoch durch Gottes Schutz.
Abraham in der Bibel – einige exemplarische Stellen
Im Buch Genesis, dem ersten Buch der Bibel, beginnt die Geschichte Abrahams mit einer Aufforderung Gottes:
> „Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde.“ (Gen 12,1)
Gott verheißt Abraham zahlreiche Nachkommen und einen großen Segen:
> „Ich will dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. \[…] Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde gesegnet werden.“ (Gen 12,2–3)
Die Erzählung folgt Abraham auf seinem Weg nach Kanaan, seiner Zeit in Ägypten und der späteren Geburt seiner beiden Söhne: Ismael und Isaak. Dabei wird Ismael als Sohn der Magd Hagar beschrieben, Isaak als Sohn der Ehefrau Sara.
In Genesis 22 kommt es schließlich zur berühmten Prüfung: Gott fordert Abraham auf, seinen Sohn Isaak als Opfer darzubringen. Abraham gehorcht, doch im letzten Moment greift ein Engel ein, und ein Widder wird als Ersatzopfer dargebracht:
> „Streck deine Hand nicht gegen den Knaben aus … Denn jetzt weiß ich, dass du Gott fürchtest; du hast mir deinen einzigen Sohn nicht vorenthalten. \[…] Weil du das getan hast \[…] will ich dir Segen schenken in Fülle und deine Nachkommen zahlreich machen wie die Sterne am Himmel und den Sand am Meeresstrand.“ (Gen 22,12–17)
Abraham im Heilige Qur’an – einige exemplarische Stellen
Auch im Islam nimmt Abraham – im Arabischen „Ibrahim“ – eine herausragende Stellung ein. Er wird als einer der bedeutendsten Propheten betrachtet. Muslime erwähnen ihn täglich im rituellen Gebet im sogenannten Durud-Scharif – einem Segensgebet für den Heiligen Propheten Muhammad (saw), in dem Abraham (as) als einziger anderer Prophet namentlich genannt wird, was im Islam als Ausdruck der Ehre gilt, die ihm zuteilwurde.
Seine besondere Nähe zu Gott wird an mehreren Stellen im Heiligen Qur’an betont. In der Sure an-Nisāʾ heißt es:
> „Und wer hat einen schöneren Glauben als jener, der sich Allah ergibt, der Gutes wirkt und der dem Bekenntnis Abrahams, des Aufrechten im Glauben, folgt? Und Allah nahm Sich Abraham besonders zum Freund.” (4:126)
Im Islam trägt er daher den Ehrennamen Khalīlullāh – der Freund Gottes.
Die Geschichte seines Opferakts wird in der 37. Sure erzählt. Abraham hat einen Traum, in dem er aufgefordert wird, seinen Sohn zu opfern:
> „O mein lieber Sohn, ich habe im Traum gesehen, dass ich dich schlachte. Nun schau, was meinst du dazu?“ (37:102)
Sein Sohn antwortet:
> „O mein Vater, tu, wie dir befohlen; du sollst mich, so Allah will, standhaft finden.“ (ebd.)
Doch auch hier greift Gott ein und ersetzt den Sohn durch ein Opfertier:
> „O Abraham, erfüllt hast du bereits das Traumgesicht … \ Das war in der Tat eine offenbare Prüfung. Und Wir lösten ihn aus durch ein großes Opfer.“ (37:105–108)
Wer war der Sohn – Isaak oder Ismael?
In der biblischen Überlieferung wird eindeutig Isaak als der Sohn genannt, den Abraham opfern sollte. Im Qur’an wird zwar kein Name genannt, jedoch wird die Ansicht vertreten, dass es sich um Ismael handelte – und dafür werden verschiedene Argumente angeführt.
Ein zentrales Argument ergibt sich aus der Erzählreihenfolge in Sure 37 des Qur’an: Zunächst wird dort berichtet, dass Abraham von Gott die frohe Botschaft eines sanftmütigen Sohnes erhält (Vers 102). Direkt im Anschluss folgt die Szene der Opferung. Die Geburt Isaaks hingegen wird erst nach der Opferung erwähnt, in Vers 113. Diese chronologische Abfolge legt nahe, dass der geopferte Sohn nicht Isaak, sondern der ältere Sohn Ismael gewesen sein muss.
Diese Auslegung wird zusätzlich durch die biblische Chronologie gestützt: In Genesis 16,16 heißt es, dass Abraham 86 Jahre alt war, als Ismael geboren wurde. In Genesis 21,5 heißt es dann, dass Abraham 100 Jahre alt war, als Isaak geboren wurde. Es ist also biblisch belegt, dass Ismael vierzehn Jahre älter war – und somit lange Zeit der einzige Sohn Abrahams war.
Gerade deshalb erscheint folgende Formulierung in der biblischen Opfergeschichte bemerkenswert:
„Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Isaak … und bring ihn dort auf einem der Berge, den ich dir nenne, als Brandopfer dar.” (Gen 22,2)
Hadhrat Mirza Bashir Ahmad (ra) weist in einem seiner Werke darauf hin, dass dieser Vers einen inneren Widerspruch enthalte: Isaak war nie Abrahams einziger Sohn – Ismael war es für mehr als ein Jahrzehnt. Der Ausdruck „einziger Sohn“ kann demnach nur auf Ismael zutreffen. In dieser Argumentationslinie verbinden sich also die Erzählreihenfolge im Qur’an, die Altersangaben der Bibel und die genaue Wortwahl des biblischen Textes zu einer konsistenten islamischen Sichtweise: Dass Ismael der Sohn war, den Abraham opfern wollte. An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass Hagar, die Mutter Ismaels, im Islam genau wie Sara als Ehefrau des Propheten Abraham (as) gilt.
Auch ein logisches Argument wird angeführt: In der biblischen Darstellung wird Isaak bereits bei seiner Geburt ein „ewiger Bund“ mit zahlreichen Nachkommen verheißen (Genesis 17,19), ebenso wird später sein Sohn Jakob angekündigt. Daraus ergibt sich jedoch ein Widerspruch, wenn man davon ausgeht, dass Isaak geopfert werden sollte. Denn wenn Isaak (as) mit Sicherheit leben, heiraten und Kinder bekommen soll, wie kann er dann zur Opfergabe bestimmt gewesen sein? Wie hätte Abraham ihn dann im vollen Glauben als Opfer bringen können?
Ein weiterer Punkt ist die geographische Angabe in der Bibel: Das Opfer habe auf dem „Berg Moria“ stattgefunden (Genesis 22:2). Einige islamische Gelehrte sehen darin eine Verbindung zur Gebirgsregion „Marwa“ nahe Mekka – ein Ort, der im Islam mit Ismael (as) und seiner Mutter Hagar (as) verknüpft ist.
Gemeinsames Gedenken und fortgeführte Praxis
Im Islam wird das Opfer Abrahams nicht nur erinnert, sondern jährlich symbolisch nachgeahmt. Am Opferfest schlachten gläubige Muslime ein Tier, dessen Fleisch zu Teilen an Bedürftige gespendet wird. Es geht nicht um das Ritual an sich, sondern um die Bereitschaft, sich Gott vollständig zu ergeben – so wie Abraham es tat.
Die Figur Abrahams zeigt, wie eng die drei Religionen miteinander verwoben sind. Trotz unterschiedlicher Überlieferungen und theologischer Details verbindet sie die Ehrfurcht vor einem Mann, der für Wahrheit, Aufrichtigkeit und den Glauben an den Einen Gott stand.
In einer Zeit religiöser Spannungen kann Hadhrat Abraham (as) nicht nur als Vorbild dienen, sondern auch als Brücke. Er lädt dazu ein, einander nicht im Anderssein zu begegnen, sondern im Gemeinsamen – im Glauben an Einen Gott, der uns zur Güte ruft.
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Literaturverzeichnis:
- Der Heilige Qur’an: Sure 6, Vers 84–85 / Sure 21, Vers 52–71 / Sure 4 Vers 126 / Sure 37, Vers 100–110 / Sure 3, Vers 68
- Genesis, Das erste Buch Moses, Kapitel 12–50
- Hadhrat Mirza Bashir Ahmad. Das Siegel der Propheten, Bd. 1. Verlag der Islam. Frankfurt am Main. 1920
- Psalm 37,39
- The Holy Quran with English Translation and Commentary. Volume 3. Surah Yunus–Sura al-Kahf. Five Volume Commentary, Vol. 3, p. 1374. Islam International Publications Limited 1949.
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