Interviews Weltreligionen

Fasten im jüdischen Glauben

Mehri Niknam, MBE, über das jüdische Fasten Jom Kippur – der dritte von vier Beiträgen mit Menschen verschiedener Religionen zum Thema Fasten.
Der Davidstern an der Außenfassade der Maisel-Synagoge, gelegen im Jüdischen Viertel von Prag in der Tschechischen Republik. Shutterstock

»O die ihr glaubt! Fasten ist euch vorgeschrieben, wie es denen vor euch vorgeschrieben war« (Der Heilige Qur’an)

Mehri Niknam ist die Gründerin und Geschäftsführerin der Joseph Interfaith Foundation. Seit 1995 ist sie als Beraterin für jüdisch-muslimische Beziehungen tätig.

Im Jahr 2005 erhielt sie den MBE für ihre Beiträge zu den muslimisch-jüdischen Beziehungen. Im selben Jahr wurde sie für ihre Verdienste um die jüdisch-muslimischen interreligiösen Beziehungen zum Honorary Fellow des Leo Baeck College (Rabbinerseminar) ernannt. Sie ist Mitglied des Imams and Rabbis Committee und des Roundtable of Academics and Theologians, zweier staatlicher Think Tanks des britischen Department of Communities.

Im Jahr 2008 war sie Fulbright-Stipendiatin und vertrat Großbritannien im Bereich Interreligiöse und gemeinschaftliche Aktivitäten.

Wir präsentieren ausgewählte Teile dieses Artikels, der ursprünglich im September 2009 auf der Website The Review of Religions veröffentlicht wurde.

»Das große Fasten im Judentum wird Jom Kippur (Versöhnungstag) genannt und ist wahrscheinlich der wichtigste und ehrfurchtgebietendste Tag des jüdischen Jahres. Er wird am ersten Tag des siebten Monats des hebräischen Kalenders begangen. Es ist ein Tag, an dem man »die Seele betrübt«, um für die Sünden des vergangenen Jahres zu büßen und »zu unserem Schöpfer zurückzukehren«. Viele Juden, die keinen anderen jüdischen Brauch befolgen, verzichten an diesem Tag auf die Arbeit, fasten und/oder besuchen den Synagogengottesdienst.

Im Judentum gibt es mehrere kleinere Fasten, aber Jom Kippur ist der einzige in der Bibel festgelegte Fastentag.

Die Tora nennt diesen Tag im Buch Levitikus Jom HaKippurim und verordnet ihn:

»Und der Herr redete zu Mose und sprach: Am zehnten Tag des siebten Monats soll ein Versöhnungstag [für die Kinder Israels] sein, eine heilige Versammlung für euch, und ihr sollt eure Seele betrüben. Und ihr sollt an diesem Tag keine Arbeit tun, denn es ist ein Versöhnungstag, um euch vor eurem Gott zu versöhnen.«

Die Riten für Jom Kippur sind im sechzehnten Kapitel des Buches Levitikus festgelegt (vgl. Exodus 30,10; Levitikus 23,27–31, 25,9 und Numeri 29,7–11). Es wird als ein feierliches Fasten beschrieben, an dem keine Speisen und Getränke verzehrt werden dürfen und an dem jede Arbeit verboten ist.

Der Verzicht auf den Genuss von Lebensmitteln soll die Fähigkeit verbessern, sich auf die Buße zu konzentrieren. Das Fasten an Jom Kippur dauert 25 Stunden und beginnt vor Sonnenuntergang am Vorabend von Jom Kippur und endet nach Einbruch der Dunkelheit am Tag von Jom Kippur.

Jom Kippur ist ein vollständiger Sabbat; an diesem Tag darf keine Arbeit verrichtet werden (z. B. Autofahren, Anzünden von Feuer, Tragen von Gegenständen in der Öffentlichkeit, Kochen, Einkaufen, Kaufen oder Verkaufen usw.). Es ist allgemein bekannt, dass man an diesem Tag nichts essen und trinken darf, auch kein Wasser. Eine Voraussetzung für wahre Reue ist jedoch die geistige Erhebung. Eine Möglichkeit, sich geistig zu erheben, ist der Verzicht auf körperliche Genüsse. Deshalb legt der Talmud auf der Grundlage von Auslegungen der hebräischen Bibel zusätzliche Einschränkungen fest. Das Baden, das Salben des Körpers (mit Kosmetika usw.), das Tragen von Lederschuhen (man sollte nichts tragen, was durch den Tod eines lebenden Tieres hergestellt wurde) und sexuelle Beziehungen sind an Jom Kippur verboten.

 Das Fasten an Jom Kippur obliegt Männern und Frauen. Jungen und Mädchen sind ab dem Alter der Volljährigkeit, also ab 13 Jahren, zum Fasten verpflichtet. Es gibt jedoch auch Ausnahmen. Wie immer im jüdischen Recht hat die Erhaltung des Lebens Vorrang vor allen anderen Gesetzen.

Daher kann jede der Jom-Kippur-Beschränkungen aufgehoben werden, wenn eine Gefahr für das Leben oder die Gesundheit besteht. Tatsächlich dürfen Kinder unter neun Jahren und Wöchnerinnen (vom Beginn der Wehen bis drei Tage nach der Geburt) nicht fasten, auch wenn sie es wollen. Ältere Kinder und Frauen vom dritten bis zum siebten Tag nach der Entbindung dürfen fasten, dürfen aber das Fasten brechen, wenn sie das Bedürfnis danach haben. Diese Regeln sind talmudisch und beruhen auf Versen der Tora, die sie auslegen.

 Jom Kippur hat einen sehr spirituellen Aspekt, der Teshuvah (Umkehr zum Schöpfer in Reue) genannt wird und sein höchstes Ziel und seine größte Errungenschaft ist. Es ist eine Gelegenheit, die Gott uns in seiner Barmherzigkeit gewährt, damit wir uns unserer Sünden bewusst werden. Indem wir sie vor Gott eingestehen, unsere Fehler korrigieren und mit zerknirschtem Herzen um Vergebung bitten, können wir wieder zu »unserem Vater, unserem König, dem Schöpfer« zurückkehren. Traditionell beginnt die spirituelle Vorbereitung auf Jom Kippur 40 Tage vorher mit dem Brauch, in den frühen Morgenstunden aufzuwachen, um Selihot (Gebete, in denen um Vergebung gebeten wird) zu rezitieren. Auch wenn diese Tradition heute im Westen nicht mehr strikt eingehalten wird, so wird sie doch an einem besonderen Abend namens Selihot begangen, an dem die Juden zur Vorbereitung auf Jom Kippur die ganze Nacht in der Synagoge Gottesdienst feiern.

Jom Kippur fällt auf den zehnten Tag nach dem jüdischen Neujahrsfest Rosch Haschana. Die zehn Tage zwischen Neujahr und Jom Kippur sind als die Tage der Ehrfurcht bekannt. Traditionell glauben wir, dass Gott an Rosch Haschana über jeden von uns ein Urteil fällt und uns die Möglichkeit gibt, im kommenden Jahr zu leben oder zu sterben – und die Art des Todes. An Rosch Haschana wird das Urteil gefällt, an Jom Kippur wird das Urteil »besiegelt« (Talmud). Diejenigen, deren Zeit zum Sterben gekommen ist, werden sterben, aber für den Rest von uns sind zehn Tage – Tage der Ehrfurcht – vorgesehen, um unsere Missetaten zu erkennen, die gegen unsere Mitmenschen begangenen zu korrigieren und Gott um Vergebung für die gegen Gott begangenen Missetaten zu bitten. Am Ende von Jom Kippur ist das Urteil Gottes »besiegelt«.

Nach 25 Stunden, in denen wir unsere Seele geplagt haben, in denen wir gefastet und die meiste Zeit während des ganztägigen Synagogengottesdienstes gestanden haben, nach langen Stunden des Gebets und der Entblößung der Seele vor dem »Herrscher des Seins«, nach dem schamhaften Eingeständnis der eigenen Unzulänglichkeiten, Fehler, Verfehlungen und Missetaten vor dem »Barmherzigen, der langsam im Zorn ist und vergibt«, während die Schatten länger werden und der Tag sich dem Ende zuneigt, lesen wir:

 »Wenn ihr mich dann anruft und zu mir betet, werde ich euch erhören. Wenn ihr mich sucht, werdet ihr mich finden; wenn ihr mich von ganzem Herzen sucht, werde ich mich von euch finden lassen.«

Der Gottesdienst endet mit dem Blasen des Schofar (Widderhorn) zum Gedenken an den Widder, den der barmherzige Gott als Ersatz für das Opfer Isaaks durch Abraham zur Verfügung gestellt hat, und das gesamte jüdische Volk in der Welt verkündet das wichtigste jüdische Gebet und den wichtigsten jüdischen Glauben, »mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzer Kraft«:

»Höre, o Israel [Bani Esra’il], der Herr ist unser Gott, der Herr ist EINS.««

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