von Yunus Mairhofer
1. Hadith als Wegweiser in unsicheren Zeiten
Vor 150 Jahren wartete die islamische Welt fieberhaft auf die Erfüllung der Prophezeiungen über die Endzeit. Die Ankunft des Imam Mahdi, eine Wiederkunft des Messias. Ein Zeichen dieser Zeit nach dem anderen zeigte sich – so wie jenes, das Bücher und Schriften weit und breit erscheinen würden. Wie durch ein Wunder scheint von dieser Begeisterung heute nicht nur nichts übrig zu sein. Jegliche Diskussion über diese Thematik wirkt überflüssig. Wird hier etwas zu vertuschen versucht?
Gleichzeitig wissen viele Muslime, dass der Islam eine einheitliche Führung braucht. Die Frage, wie konkret diese Führung aussieht und wo man sie heute findet, wird aber entweder reaktionär und ohne Verstand oder eben gar nicht behandelt. Dabei hat der Prophet, Muhammad (saw), die Antwort bereits in seinen Worten vorausgeschickt.
In einem bekannten Hadith aus Sahih Muslim, überliefert von Hudhaifah ibn al-Yaman, schildert der Gesandte Gottes (saw) ein prophetisches Szenario für die Zukunft seiner Ummah: Es werde Zeiten geben, in denen die Einheit der Muslime zerfalle, falsche Führer auftreten und die Orientierung verloren gehe. In diesem Zusammenhang spricht Muhammad (saw) die entscheidenden Worte:
„Halte dich an die Jamaat der Muslime und an ihren Imam. Wenn sie aber weder eine Jamaat noch einen Imam haben, dann halte dich von allen Gruppen fern, selbst wenn du an der Wurzel eines Baumes kauen musst, bis dich der Tod ereilt, während du in diesem Zustand verharrst.“1
Dieser Hadith macht vieles deutlich: Einerseits legt er das Ideal einer religiösen Ordnung mit Imam und Gemeinschaft fest, andererseits das Gebot des Rückzugs als letzte Möglichkeit, falls keine legitime Führung erkennbar ist. Aber er zeigt eben auch: Der Muslim hat nicht nur das Recht, sondern vielmehr die Pflicht, nach einem solchen Imam Ausschau zu halten.
Nicht Gruppen sind also der Wegweiser, sondern letztlich der rechtgeleitete Imam. Wer also meint, sich zwischen Youtube-Fatwas, Telegram-Kanälen und intellektuellen Strömungen elegant hindurchmanövrieren zu können und dabei die prophetische Aufforderung zur Bindung an den Imam zu umgehen, sollte sich ehrlich fragen: Wem folge ich da eigentlich wirklich? Ist es jene Stimme, die Allah zu Führung erhoben hat – oder sind es die, die am lautesten oder sympathischsten wirken?
2. Die Zeit der Mujaddidin – Führung im Übergang
Wir rudern ein Stück zurück. Nach dem Ableben des Heiligen Propheten (saw) folgt für Sunniten zunächst die Ära der rechtgeleiteten Kalifen. Danach jedoch kam das, was der Prophet selbst vorhergesagt hatte: dynastische Königtümer und politische Machtblöcke, in denen geistige Führung oft der Machtpolitik weichen musste.
In dieser Zwischenzeit wirkten die sogenannten Mujaddidin, die religiösen Erneuerer. Ihr Auftreten war durch einen weiteren Hadith angesagt, überliefert in Sunan Abi Dawud, worin der Prophet (saw) sagt:
„Allah wird zu Beginn eines jeden Jahrhunderts jemanden erwecken, der diese Religion für die Menschen erneuert.“2
Diese Mujaddidin wirkten über die Jahrhunderte wie Leuchttürme in stürmischer See. Zwar führten sie keine organisierten Jamaats im modernen Sinn, doch ihre geistige Autorität war oft weit anerkannt. Viele aufrichtige Muslime folgten ihnen indem sie das Treuegelübde an ihrer Hand ablegten und hielten sich damit an das Prinzip des Hadiths über den Imam: nämlich die Anbindung an die von Allah gesegnete Führung. Man suchte sie, man kannte sie – und niemand fragte dabei, ob sie aus Arabien, Persien, Indien oder Nordafrika stammten.
3. Die Rückkehr der Khilāfat auf Grundlage des Prophetentums
Für die Jahrhunderte nach dem ersten goldenen Zeitalter des Islam verhieß der Prophet Muhammad (saw) nicht nur Rückzug und Prüfungen – sondern auch eine Wiederkehr des Lichts. In einem weiteren bekannten Hadith aus Musnad Ahmad, überliefert von an-Nuʿmān ibn Bashīr (ra), heißt es:
„Das Prophetentum wird unter euch verbleiben, solange Allah will, dass es bleibt. Dann wird Er es hinwegnehmen. Danach wird ein Khilafat folgen auf dem Wege des Prophetentums, solange Allah will, dass es bleibt. Dann wird Er es hinwegnehmen. Danach wird ein erdrückendes Königtum folgen, solange Allah will, dass es bleibt. Dann wird Er es hinwegnehmen. Und danach wird wieder eine Khilafat folgen auf dem Wege des Prophetentums.” Dann schwieg der Prophet (saw).3
4. Zwischen Sehnsucht und Leugnung – das Dilemma heutiger Muslime
Viele aufrichtige Muslime sehnen sich nach diesem Khilafat – nach einer Einheit, Führung, nach einem Imam, der nicht spaltet, sondern verbindet. Und doch lehnen sie genau das ab, sobald es ihnen begegnet. Denn sie befinden sich in einem inneren Zwiespalt: Einerseits beklagen sie die Spaltung der Ummah, das Fehlen gemeinsamer Führung, das Chaos der Meinungen. Andererseits empören sie sich, wenn jemand beansprucht, genau diese Lücke – mit göttlichem Mandat – zu füllen.
Die Vorstellung, dass der Mahdi und Messias tatsächlich erscheinen könnte – bescheiden, menschlich, argumentativ, prophetisch – wirkt für viele befremdlicher als die Idee, er werde eines Tages auf einer Wolke vom Himmel schweben. Für manche Muslime scheint es weniger problematisch zu sein, dass Jesus (as) zwei Jahrtausende im Orbit kreist, als dass ein von Allah berufener Messias und Mahdi aus einem Dorf in Indien kommt (auch wenn es exakt östlich von Damaskus liegt).
Dabei ist gerade die Stille und Demut, in der der Verheißene Messias aus Qadian (as) auftrat, ein Zeichen seiner Wahrheit. Er kam nicht mit Schwert, sondern mit Gebet. Nicht mit Gewalt, sondern mit Argument. Und vielleicht ist das der Grund, warum er so viele Herzen überfordert: Er erschien nicht, wie man es sich wünschte, sondern wie es der Qur’an versprach.
Und darin steht er in bester Gesellschaft. War nicht immer, wenn ein Prophet erschien, sein Erscheinen anders als erwartet – seine Sprache anders als erhofft, seine Herkunft für viele ein Stolperstein?
Hazrat Mirza Ghulam Ahmad aus Qadian (as), dessen Anspruch viele nicht etwa widerlegen konnten, sondern schlicht ignorierten, weil er nicht in ihr Bild passte; er sollte dasselbe Schicksal erfahren wie sein Herr und Meister, Muhammad (saw): Die einen erwarteten einen Engel, die anderen einen Gelehrten aus ihrer eigenen Elite. Stattdessen aber kam ein stiller Mensch mit göttlicher Botschaft, aber ohne Gefolge.
Gott sendet Seine Gesandten nie im Gewand gesellschaftlicher Erwartungen, sondern im Licht Seiner Wahrheit. Genau das beschreibt auch der Qur’an in Sure al-Jumuʿah (62:2–4), wo die Sendung des Propheten Muhammad (saw) unter den Ungebildeten als Gnade bezeichnet wird – und zugleich angekündigt wird, dass ein Gleichartiger unter anderen erscheinen werde, „die sich ihnen noch nicht angeschlossen haben“.
Und wer sich fragt, warum diese Gunst gerade diesen Menschen zuteilwird – den erinnert der Qur’an im darauffolgenden Vers (62:5) daran:
„Das ist Allahs Huld; Er gewährt sie, wem Er will; und Allah ist der Herr großer Huld.“
5. Der Imam ist da – nur nicht auf einer Wolke
Heute ist die Ahmadiyya Muslim Jamaat die einzige islamische Bewegung mit einem weltweit anerkannten, gewählten, spirituell geführten Imam. Wer diesen Umstand kennt, kann sich nicht mehr auf das Rückzugsmotiv berufen. Die Wahl ist gestellt: Entweder man sucht weiter nach einem Imam – oder man überprüft, ob nicht der bereits erschienene genau das erfüllt, was verheißen war. Der Imam ist gekommen – zwar nicht auf einer Wolke, dafür mit einer Botschaft, die den Himmel öffnet. Und Friede sei mit dem, der der Rechtleitung folgt.
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Referenzen:
1 Sahih Muslim, Buch Kitāb al‑Imārah (Buch 33, Hadith 82 / USC‑MSA Book 20, Hadith 4554): Hudhaifah ibn al‑Yaman über Prophetensagen zur Jama’ah und Rückzug.
2 Sunan Abī Dāwūd, Hadith Nr. 4291: Prophetens Aussage über Mujaddid in jedem Jahrhundert.
3 Musnad Aḥmad ibn Ḥanbal, Hadith Nr. 18406 (bzw. 18596): Prophetens Verheißung an-Nuʿmān ibn Bashīr über wiederkehrende Khilāfah „auf dem Wege der Prophetie“, mit Schlusswort „ثم سكت“.
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