von Sadia Maqbool
»Kommt und holt mich! Ich habe solche Angst! Bitte holt mich!« Das waren einer der letzten, verzweifelten Worte der sechsjährigen Hind Rajab an die Notzentrale. Ein kleines palästinensisches Mädchen, gefangen in einem Albtraum, aus dem es kein Erwachen gibt. Während sie inmitten des Chaos Schutz suchte, wurde ihr Leben mittels eines israelischen Panzers grausam beendet, aus dem 355-mal auf das Auto, in dem sie sich befand, geschossen wurde.1
Diese herzzerreißende Geschichte ist nur eines der tragischen Geschehnisse unter mehreren Tausenden, die das unermessliche Leid verdeutlichen, das der Genozid in Gaza seitens Israel tagtäglich über unschuldige Menschen bringt.
Nicht selten ziehen die Nachrichten von Leid, Grausamkeiten und Zerstörung, die aus den Konfliktzonen unserer Erde zu uns dringen, wie ein ferner Sturm an uns vorbei. Doch manchmal trifft uns dieser Sturm direkt ins Herz, lässt uns innehalten und zwingt uns, die Realität zu betrachten, der sich unzählige Menschen jeden Tag stellen müssen.
Der Israel-Palästina-Konflikt, der Genozid in Gaza seitens Israel, ist eine solche Realität – ein jahrzehntelanges Beschneiden von Land, Identität und Gerechtigkeit, das unzählige Leben gezeichnet hat.
Gefangen zwischen Mitgefühl und Ohnmacht stehen wir da, oft wie gelähmt und machtlos angesichts der endlosen Spirale von Gewalt und Gegengewalt. Wir sehen die Tränen und den Schmerz in den Augen der Mütter und Väter, die ihre Kinder betrauern, die zerstörten Häuser, die einst voller Leben waren, und die Menschen, die inmitten des Chaos nach einem Funken Hoffnung suchen. Mit voller Wucht ziehen uns unser Herz und Verstand auf die Seite der Unterdrückten, der Vertriebenen, der unschuldigen Seelen – derer, deren Stimmen im Kriegsgeschrei zu ersticken drohen.
Inmitten dieses Leids stellen wir uns oftmals die quälende Frage: Wenn es einen gütigen Gott gibt, warum lässt er dann solches Leid auf der Welt zu? Wie kann Gott, der ar-raḥīm, also barmherzig ist, zulassen, dass unschuldige Menschen solch unermesslichen Schmerz und Leid erfahren?
»Wahrlich, Wir werden euch prüfen mit ein wenig Furcht und Hunger und Verlust an Gut und Leben und Früchten; doch gib frohe Botschaft den Geduldigen, die sagen, wenn ein Unglück sie trifft: ›Wahrlich, Allahs sind wir und zu ihm kehren wir heim.‹ Sie sind es, auf die Segen und Gnade träuft von ihrem Herrn und die rechtgeleitet sind.« (Der Heilige Qur’an Sure 2, Vers 156–158)
Der vorliegende Qur’anvers impliziert, dass Leid einen wesentlichen Bestandteil des göttlichen Plans darstellt, um die moralische und spirituelle Entwicklung des Menschen zu fördern. Leid dient als ein Prüfstein, durch den Menschen ihre Tugenden wie Geduld, Mitgefühl und Standhaftigkeit entfalten können. Zudem ist es eine Konsequenz des freien Willens, den Gott dem Menschen gegeben hat, wodurch er in der Lage ist, zwischen Gut und Böse zu wählen. Das Vorhandensein von Leid sollte daher nicht als Widerspruch zur Güte Gottes gesehen werden, sondern als Möglichkeit, menschliche Werte zu entwickeln und die wahre Bedeutung von Mitgefühl und Gerechtigkeit zu erkennen.
Würde Gott das Leid aus der Welt nehmen, so würde er uns zugleich die Möglichkeit rauben, uns zu entfalten und zu wachsen. Ohne das Erleben von Kummer und Schmerz könnten wir weder wahre Freude noch echtes Glück erkennen und unsere Existenz verlöre jeglichen Sinn. Somit fordert uns die Existenz von Leid nicht dazu auf, an der Güte oder Existenz Gottes zu zweifeln. Vielmehr ruft sie uns auf, unsere eigene Menschlichkeit zu erkennen, aktiv zu sein und Gottes Nähe zu erlangen.
»Kein Unglück, kein Leid, kein Kummer, keine Drangsal, keine Trauer und keine Sorge trifft den Menschen, ja nicht einmal ein Dorn sticht einen Muslim, ohne dass Gott sein Leiden zur Sühne für ihn macht.« (Ṣaḥīḥ muslim)
In diesem Ausspruch des Heiligen Propheten MuhammadSAW wird nochmals der Aspekt betont, dass Leid und Prüfungen von Gott als Mittel zur Läuterung und spirituellen Entwicklung dienen, wodurch der Mensch die Möglichkeit erhält, seine Menschlichkeit zu entfalten und Gottes Nähe zu erlangen. Doch was können wir nun hier in unseren sicheren Heimen tun, fernab dieser Konfliktzonen? Wie können wir unsere Menschlichkeit und unser Mitgefühl den unschuldigen Menschen gegenüber zum Ausdruck bringen? Wie können wir unseren Schmerz und unser Mitgefühl in Taten umwandeln, wenn die politische Realität uns oft so machtlos erscheinen lässt?
Es ist dieser innere Konflikt, der uns zerrüttet: Das Bedürfnis, zu helfen und zu heilen, steht im drastischen Gegensatz zu dem Gefühl der Machtlosigkeit, das uns überkommt, wenn wir erkennen, wie tief die Wunden des Hasses und der Ungerechtigkeit an diesem Ort sind.
Wir müssen den Mut aufbringen, in unserem eigenen Milieu Zeichen der Solidarität zu setzen. Jede noch so kleine Handlung – wie das Teilen von Aufklärung, das Spenden für humanitäre Hilfe, oder das Eintreten für Gerechtigkeit in jeglicher Hinsicht – trägt dazu bei, die Stimme der Menschlichkeit lauter werden zu lassen. Es ist unsere Aufgabe, die Brücke zwischen Mitgefühl und Tatkraft zu schlagen, um in einer Welt, die allzu oft von Dunkelheit umhüllt ist, das Licht der Hoffnung zu entzünden.
Auch wenn wir nämlich nicht die Macht besitzen, die großen politischen Entscheidungen zu beeinflussen, so liegt es in unserer Hand, einen Unterschied im Leben derer zu machen, die von diesem Krieg betroffen sind. Lassen wir uns nicht von der Ohnmacht überwältigen, sondern fassen wir den Mut und stehen für das ein, was uns menschlich macht: unser Mitgefühl und unsere Bereitschaft, für die Rechte der Unterdrückten und Unschuldigen einzutreten. So können wir, trotz der Entfernung, ein Stück der Menschlichkeit bewahren und weitergeben, wonach diese Welt am meisten dürstet. Die Welt braucht unsere Unterstützung, unsere Menschlichkeit!
Lasst uns daher aktiv gegen das Leid der Welt ankämpfen! Lasst uns auf die Straßen gehen und auf friedliche Weise gegen die vorherrschende Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit protestieren. Lasst uns laut werden auf den sozialen Medien und über die geopolitischen Tatsachen aufklären! Lasst uns zu guter Letzt nicht die Kraft des Gebetes unterschätzen, auf das uns Seine Heiligkeit Hadhrat Mirza Masroor Ahmad (aba), Oberhaupt der weltweiten Ahmadiyya Muslim Jamaat, stets unser Augenmerk richtet:
»Auch [müssen wir] inbrünstig beten. Möge Allah diesen Krieg beenden und die unschuldigen, unterdrückten Palästinenser beschützen, damit sie nicht weiterem Unrecht ausgesetzt sind, und möge Allah alles Unrecht in der Welt beenden, wo auch immer es herrscht. Möge Allah uns befähigen zu beten.« (Freitagsansprache 20.10.2023)
Lasst uns Brücken des Friedens bauen und den Dialog suchen, um das Leiden zu beenden. Wir müssen gemeinsam für eine gerechte und friedliche Lösung kämpfen, die das Leben und die Würde aller Menschen schützt.
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Über die Autorin: Sadia Maqbool ist Akademikerin mit einem Bachelor of Arts in den Fächern Englisch und Spanisch. Sie unterstützt die Ahmadiyya Gemeinde unter anderem bei diversen Korrekturarbeiten als auch Übersetzungsarbeiten wie für Review of Religions Spanish und für Spanish Desk und hat bei der Hilfsorganisation Humanity First mitgewirkt. Vor einigen Jahren begann sie ihre künstlerische Laufbahn mit dem Projekt Art for Charity. Derzeit ist sie als selbstständige Künstlerin im Bereich islamische Kunst tätig und betreibt ihren eigenen Kunstshop namens AinWunderwerk.
Quellen:
1 Pitt von Bebenburg. (18.02.2024). Tod im Gazastreifen: Der Alptraum von Mohammedsalem. Frankfurter Rundschau. https://www.fr.de/politik/tod-im-gazastreifen-der-alptraum-von-mohammedsalem-92839534.html.
Ahmad, Hadhrat Mirza Tahir (2018). Offenbarung, Vernunft, Wissen und Wahrheit. Verlag Der Islam.
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