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Gesellschaftskrankheit Narzissmus: Die schleichende Bedrohung von innen wie außen

Werden die Menschen das Tauziehen zwischen Eigennutz und Empathie für sich entscheiden? Und wie kann uns das gelingen?
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von Yunus Mairhofer

»Der Narzisst in uns will die Realität dem eigenen Ich anpassen, um sich ständig zu bestätigen. Er setzt seine ganze Energie darauf, die Welt und die Menschen in ihr so zu formen, dass sie seinem eigenen Selbstbild entsprechen, anstatt sich auf die Realität einzulassen und sie zu akzeptieren, wie sie ist. Auf diese Weise bleibt er in einem endlosen Kreislauf von Selbstbewunderung und Selbsttäuschung gefangen, ohne jemals echte Erfüllung oder Verbindung mit anderen zu finden. Der Narzisst mag äußerlich selbstsicher wirken, aber in Wahrheit leidet er unter tiefen inneren Unsicherheiten und einem Mangel an echtem Selbstwertgefühl.«

»Gruppennarzissmus ist die Tendenz von Gemeinschaften oder Gesellschaften, sich selbst zu idealisieren und andere Gruppen abzuwerten. Wie individuelle Narzissten können Gruppen einen ähnlichen Mechanismus anwenden, indem sie sich als überlegen betrachten und andere als minderwertig oder feindlich. Dies kann zu Konflikten, Vorurteilen und Diskriminierung führen, da Gruppen ihre eigenen Interessen über die der anderen stellen und sich weigern, Empathie und Verständnis für die Perspektiven anderer einzubringen.«

Diese Definitionen des berühmten deutschen Psychoanalytikers und Sozialpsychologen Erich Fromm haben an Aktualität leider wohl nichts eingebüßt. Wurde der Mensch zum Architekten einer narzisstischen Gesellschaft? Einer Kultur, die Egozentrik, Materialismus und Aufmerksamkeit heischendes Verhalten fördert? Vertreter dieser These fühlen sich bestätigt und verweisen heute auf die Verbreitung sozialer Medien, in denen der Einzelne sein Leben buchstäblich vermarktet, um Bestätigung zu finden. Und auf ein verbreitetes Konsumverhalten, bei dem Status und Besitz andere Werte überschatten.

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Andere sehen in diesem Bild eine Vereinfachung komplexerer gesellschaftlicher Probleme. Sie argumentieren, dass bestimmte Aspekte der modernen Kultur zwar so etwas wie die Selbstverliebtheit fördern, dass aber nach wie vor Gegenkräfte im Spiel sind. Zunehmende Sensibilisierung für Fragen der körperlichen wie psychischen Gesundheit, Bemühungen um Empathie und soziale Verantwortung zeugen beispielsweise von einer vielschichtigen Gesellschaft, die sich nicht auf ein einziges Etikett reduzieren lässt. Ist es also noch nicht um uns geschehen?

Nicht alles über die Freiheit
Die persönliche Freiheit ist ein weiterer Aspekt, der häufig in Diskussionen über Narzissmus in der modernen Gesellschaft auftaucht. Befürworter der persönlichen Freiheit meinen, dass der Einzelne das Recht hat, sich authentisch auszudrücken, seine eigenen Interessen zu verfolgen und sein eigenes Wohlbefinden ohne fremde Einmischung in den Vordergrund zu stellen. Aus dieser Perspektive könnten Verhaltensweisen, die mit Narzissmus in Verbindung gebracht werden, wie z. B. Selbstdarstellung und Durchsetzungsvermögen, als Ausdruck individueller Autonomie und Selbstbestimmung betrachtet werden.

Kritiker dessen wiederum warnen davor, dass ein unkontrolliertes Streben nach persönlicher Freiheit ohne Rücksicht auf die Auswirkungen auf andere eben zu einer Kultur des Narzissmus führen kann – um nicht zu sagen führte -, in der das Eigeninteresse Vorrang vor dem Gemeinwohl hat.

Um ein Gleichgewicht zwischen persönlicher Freiheit und sozialer Verantwortung zu erreichen, ist also eine sorgfältige Abwägung der Grenzen zwischen individuellen Rechten und gesellschaftlichen Werten erforderlich, sowie ein Bewusstsein dafür, wie sich das eigene Handeln auf andere auswirken kann. Erst durch die Förderung einer Kultur, die sowohl die persönliche Autonomie als auch die Empathie gegenüber anderen schätzt, wird eine Gesellschaft aufgebaut, in der die individuelle Freiheit harmonisch mit einem Sinn für gemeinschaftliche Verantwortung koexistiert.

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Wo bleiben die Initiativen?
Initiativen zur Förderung von Empathie, zur Stärkung sozialer Bindungen, zur Förderung von Sinn und Zweck, aber auch beispielsweise zur Förderung eines verantwortungsvollen Medienkonsums können alle eine Rolle bei der Gestaltung einer ausgewogeneren und mitfühlenderen Kultur spielen.

Interessanterweise geht der Anstieg von Individualismus und moralischem Relativismus in der Gesellschaft mit der abnehmenden Beteiligung an religiösen Institutionen einher. Eigentlich sind deren Strukturen prädestiniert, um vor narzisstischen Entwicklungen zu schützen. Religiöse Lehren überall betonen in der Regel Bescheidenheit, Mitgefühl und den Dienst an der Gemeinschaft und bilden so seit langem ein notwendiges Gegengewicht zu egozentrischen Tendenzen.

Nur sind religiöse Gemeinschaften selbst nicht immun gegen moralischen Verfall, wie Fälle von Kirchen und Sekten jeder Konfession zeigen, deren Vertreter ihre Anhänger für Eigeninteressen ausnutzen. Gleichzeitig geben sich viele Anhänger selbst mit bloßen Hüllen dessen zufrieden, was ihre Religion einst ausmachte. Umso mehr stehen alle Glaubensgemeinschaften in der Pflicht, ihrer Verantwortung in der Gesellschaft gerecht zu werden. Interne wie externe Zwistigkeiten müssen endlich aufgegeben werden, um einem weltweiten Frieden Platz zu machen. Dies kann dann gelingen, wenn alle gemeinsam für jene Werte einstehen, die sie verbinden.

Über die Rolle der Religionen in der Gesellschaft äußerte sich auch Hadhrat Mirza Masroor Ahmad, das weltweite Oberhaupt der muslimischen Reformgemeinde Ahmadiyya Muslim Jamaat, in einer Ansprache an deutsche Würden- & Entscheidungsträger 2019 in Berlin:

»Die westlichen Werte sind Jahrhunderte alt und basieren auf religiösen Traditionen und insbesondere auf ihrem christlichen und jüdischen Erbe. Diese religiösen Werte und kulturellen Normen werden jedoch von denjenigen angegriffen, die alle Formen von Religion und Glauben ablehnen. Daher glaube ich als muslimischer Führer, dass Sie Ihr Erbe und Ihre Kultur schützen sollten, indem Sie Ihre Energien darauf konzentrieren, den Niedergang der Religion aufzuhalten und die Menschen wieder zurück zu Religion und Glauben zu bringen, ob das nun das Christentum, das Judentum oder eine andere Religion ist. Es sollte nicht sein, dass im Namen des Fortschritts jene Werte und moralischen Normen, die seit vielen Jahrhunderten Teil der Gesellschaft sind, plötzlich aufgegeben werden.«

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