Geschichtliches Islam

Islam in Deutschland schon länger als Muslime?

„Islam gehört zu den Fundamenten deutscher Kultur. Ohne den Islam keine Scholastik, keine Universitäten und keine Wissenschaft in unserer heutigen Form.“ (Borgolte)

von Scharjil Khalid

2010 erklärte Christian Wulff: Der Islam gehört zu Deutschland. Zwei Jahre später erwiderte Joachim Gauck: Muslime gehören zu Deutschland. Jetzt heißt es: Muslime, die unsere Werte teilen, gehören zu Deutschland. Was ist nun die Antwort? Gehört der Islam zu Deutschland oder nicht?

Seit Jahren wird diese Frage medial und politisch kontrovers diskutiert, und noch immer scheinen wir keine eindeutige Antwort darauf gefunden zu haben. Am ehesten scheint die Aussage von Angela Merkel Sinn zu machen, dass die Muslime zu Deutschland gehören und somit auch ihre Religion, der Islam. Diese Argumentation schließt auf Basis der Realsoziologie – der Muslime – Rückschlüsse auf die normative Lehre – den Islam. Der Elefant im Raum ist jedoch der, den der ehemalige Bundesinnenminister Hans Peter Friedrich vor 10 Jahren ansprach: „Dass der Islam zu Deutschland gehört ist eine Tatsache, die sich auch aus der Historie nirgendwo belegen lässt“, schließlich befänden wir uns hier im jüdisch-christlichen Abendland. Untersucht man indes die ideengeschichtliche Entwicklung des Abendlandes, verschwindet der Elefant im Raum schnell und man stellt wie Michael Borgolte, Professor der HU für Mittelaltergeschichte, fest, dass der Islam schon viel länger als die Muslime zu Deutschland gehört: 

„Nicht die Muslime gehören zu Deutschland, aber der Islam gehört zu den Fundamenten europäischer und deutscher Kultur.“

Spricht man von europäischen Werten oder ihrer Kultur, bezieht man sich zuvorderst auf Demokratie, Menschenrechte, Liberalismus, Freiheit usw., die ideengeschichtlich auf die Aufklärung zurückgeführt werden. Denkern wie Locke, Rousseau, Montesquieu und Kant wird dabei eine herausragende Rolle zugewiesen. Für ihre Theorien zu Demokratie, Freiheit und Vernunft ist der Rückgriff auf antike Philosophen wie Aristoteles, Platon, Sokrates, Ptolemäus, Galen etc. entscheidend. Die Schriften der antiken Philosophen, die in der Wiege des Abendlandes entstanden, erlebten in der Renaissance buchstäblich eine Widergeburt. Die zentrale Frage an dieser Stelle lautet, wie diese Wiedergeburt ermöglicht wurde? Schließlich waren die Schriften dieser antiken Philosophen im Mittelalter so stark verpönt, dass die Kirche die Verbrennung solcher heidnischen Schriften anordnete. Das Studieren und Verbreiten der Werke von heidnischen Philosophen wie Aristoteles und Platon war mithin strengstens untersagt. Wie haben dann Philosophen der Aufklärung Zugang zu Schriften der antiken Griechen erhalten?

Die Suche führt uns zum muslimischen Reich des 8. Jahrhunderts, genauer gesagt zum Haus der Weisheit, dem Bait-ul-Hikma. In einer Ära, in der der Okzident in Dunkelheit verharrte, erleuchtete der Orient durch den Islam und erlebte während des sogenannten goldenen Zeitalters eine Blütezeit. Die islamische Lehre animierte die Frühmuslime dazu, ausgehend vom Haus der Weisheit in Bagdad Schriften aus aller Welt zu sammeln. Schließlich lehrte der Heilige Prophet Muhammad (saw), dass der Muslim sogar nach China reisen sollte, um Wissen zu erlangen. Gemäß islamischer Überlieferung soll sich der Muslim jedes weise Wort aneignen, unabhängig von dessen Ursprung. Daher scheuten sich Muslime nicht davor, auch Werke der heidnischen Griechen zu studieren, denn sie folgten der islamischen Lehre. Eine Lehre, die in rund 750 Versen im Heiligen Qur’an den Muslim dazu auffordert, den Verstand zum Äußersten zu nutzen und die wissenschaftliche Arbeit als integrierenden Bestandteil des gemeinschaftlichen Lebens zu verstehen. Aufgrund dieser Lehre, die den Muslim dazu verpflichtet, Gutes mit seinen Mitmenschen zu teilen, übersetzten die Frühmuslime im Haus der Weisheit die gesammelten griechischen, persischen und indischen Texte ins Arabische. Diese arabischen Übersetzungen des Wissens aller Welt wurden sodann im islamischen Toledo des 12. Jahrhunderts ins Lateinische übertragen, damit auch der Westen davon profitieren konnte. Die gesammelten Schätze des Wissens zogen viele Menschen aus Europa an, die dort keinen Zugang zu solchen wissenschaftlichen Texten hatten. Unter Ihnen befand sich der römisch-deutsche Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen, der im 13. Jahrhundert arabisch erlernte, um das von Muslimen gesammelte Wissen zu übersetzen. Von der Gelehrsamkeit der Muslime beeindruckt, nahm er einige muslimische Mathematiker und Philosophen in seinem Hof auf. Um die Theorien von Aristoteles zu verstehen, hielt der Kaiser niemand anderen für geeigneter als den muslimischen Philosophen Ibn Sabin. Ihm stellte er fünf Fragen zu den Werken der antiken Griechen, die als sizilianische Fragen in die Geschichte eingingen.

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Auch Papst Silvester II. zog es zum damaligen wissenschaftlichen Zentrum der Welt, weshalb er in Al-Andalus drei Jahre lang arabisch lernte, um die wissenschaftlichen Schriften für Europa zugänglich zu machen. Er trug insbesondre dazu bei, mathematische und astronomische Erkenntnisse der Muslime in Europa zu verbreiten.

Neben Übersetzungen alter Schriften wurden viele Muslime selbst zu führenden Wissenschaftlern in Medizin, Mathematik, Chemie u.v.m. Der Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnissen durch Muslime reformierte Europa grundlegend. Beispielsweise wurde Algebra durch die Erkenntnisse des Muslims Al-Khawarizmi in Europa bekannt. Medizinische Werke wie die von Ibn Sina wurden über sechs Jahrhunderte in europäischen Universitäten gelehrt. Die Übertragung der arabischen Zahlen nach Europa, mit denen heute jeder von uns rechnet, erfolgte ebenfalls zu dieser Zeit. Nicht nur Zahlen, sondern auch dutzende arabische Begriffe fanden so Eingang in die deutsche Sprache, wie z.B. Magazin, Matratze, Sofa und der Name des Lieblingsgetränks der Deutschen: Kaffee. 

Ideengeschichtlich betrachtet war allerdings für die Renaissance und Aufklärung entscheidender – und damit für unsere heutigen Werte – dass Muslime die philosophischen Werke der antiken Griechen nach Europa brachten. Darauf folgte eine bedeutsame ideengeschichtliche Entwicklung, die von vielen übersehen wird, aber den Übergang vom Mittelalter zur Renaissance markiert, nämlich den Versuch der Synthese von Glauben und Vernunft in der Scholastik. Für Scholastiker wie Thomas von Aquin, Albertus Magnus, Bonaventura eröffneten sich vor allem durch Aristoteles neue Perspektiven. Der Philosoph und Meister, wie Aristoteles von den Scholastikern genannt wurde, war aber nur durch die Brille der Muslime zu verstehen. Die lateinischen Lehrer sahen in den muslimischen Autoren Pioniere und Leitfiguren für das Verständnis von Aristoteles. Hierbei ragt ein Muslim besonders heraus: Ibn Rushd, auch Averroes genannt, wie er in Europa bekannt war. Obwohl die Kirche Werke von Ibn Rushd verbot, griffen die Universitäten von Paris und Oxford auf seine Kommentare zurück, um Aristoteles zu verstehen. Man nannte Aristoteles auch „The Philosophus“ und Ibn Rushd „Commentateur“.

Viele verkennen die Wirkmacht des „goldenen Zeitalters“, indem sie die Leistung der damaligen Muslime lediglich auf die Übersetzung der antiken Schriften reduzieren. In Wahrheit sammelten und übersetzten die Muslime nicht nur das Wissen aus aller Welt, sondern erweiterten und kommentierten es, wie der verstorbene Professor für semitische Sprachen an der Yale University, Franz Rosenthal, bemerkt: 

„Mancher große Autor erschien [den Arabern] langatmig, so dass die Kürzungen und Paraphrasen als geeigneter erachtet wurden, den Inhalt seines Werkes zu vermitteln. Bei einigen Autoren lieferten die Kommentare zu ihren Werken mehr Informationen und waren aussagekräftiger geworden als der Originaltext. Dies war der Fall bei Aristoteles’ Organon, das wörtlich übersetzt wurde und uns in wörtlicher Form erhalten ist, aber bevorzugt aus Kommentaren studiert wurde.“

Ibn Rushd ging weit über das traditionelle aristotelische Schrifttum hinaus. Insbesondere versuchte er, einen logischen Zusammenhang für Aristoteles’ “Rhetorik” und “Poetik” herzustellen, indem er sie als siebtes und achtes Buch in das „Organon“ integrierte. Wie einflussreich das Sammelwerk Organon und die Schriften Rhetorik und Poetik gerade für die Aufklärung waren, sollte besonders denen bekannt sein, die immer wieder von einer deutschen Leitkultur sprechen. Ibn Rushd umspannte Aristoteles Werke so breit, dass er sogar den ersten Übersetzer von Aristoteles – Boethius – in den Schatten stellte, wie auch Shane Borrowmann, Professor der Universität Montana Western, konstatiert: 

„Ibn Rushd kommentierte, anders als der allzu ehrgeizige Boethius, praktisch das gesamte aristotelische Korpus, wie es in der arabischen Welt existierte, und schrieb oft mehrere Kommentare zu einem einzigen Werk. Er kommentierte auch ausgewählte Werke Platons, insbesondere die Republik. Ibn Rushds Wissen über Aristoteles war also größer und komplexer, als es das von Boethius sein könnte.“

Ibn Rushds Kommentare waren für die Europäer elementar für das Verständnis der antiken Philosophen. Viele in Europa widmeten den Kommentaren bisweilen mehr Aufmerksamkeit als den originalen Schriften. Was viele nicht wissen, ist, dass die Scholastiker eine „islamische“ Version der antiken Philosophen lasen, wie der amerikanische Philosoph Ralph Lerner erklärt: 

„So fasst Ibn Rushd in seinem Werk über die Republik Platon weitgehend zusammen und passt seine Beispiele an ein islamisches Publikum an. Aber es gibt Stellen, an denen Platon kurz und Ibn Rushd lang ist, Stellen, an denen Platon lang ist und Ibn Rushd seinen Text kürzt, und (am faszinierendsten von allen) Stellen, an denen Platons ursprüngliche Argumentationslinie durch die Einfügung von Ideen von al-Farabi und Aristoteles erweitert wird.“

Auch der emeritierte Professor für politische Philosophie an der University of Maryland, Charles Butterworth, zeigt auf, wie Ibn Rushd zuweilen unbemerkt eigene Ideen einfließen ließ: 

„Weit entfernt von unterwürfiger Nachahmung oder wörtlicher Wiederholung zeigt eine aufmerksame Lektüre von [Ibn Rushds] Kommentaren zu den Texten von Aristoteles, dass Argumente, die Aristoteles vorgebracht hatte, oft weggelassen, Vorstellungen, die seinem Denken fremd waren, manchmal hinzugefügt und gelegentlich sogar Argumente in seinem Namen erfunden wurden“

Ali Eminov/Flickr

Das antike Griechenland mit seinen Philosophen gilt als die Wiege des Abendlandes, als das Fundament der europäischen und deutschen Kultur. Wenn wir die „islamische“ Version von Aristoteles und Platon rezipieren, gibt es keinen Zweifel mehr, dass der Islam nicht nur zu Deutschland gehört, sondern zu den Fundamenten deutscher Kultur zählt. Noch deutlicher wird es, wenn wir die ideengeschichtliche Entwicklung ab dem 13. Jahrhundert betrachten. 

Nachdem die Scholastiker die übersetzten Werke der antiken Griechen erhielten, waren sie besonders von der aristotelischen Logik fasziniert. Als sie dann sahen, wie muslimische Denker wie Al-Farabi die Harmonie zwischen Vernunft und Offenbarung betonten sowie Wissenschaft und Glaube als komplementäre Stränge betrachteten, implementierten Scholastiker wie Thomas von Aquin diesen Ansatz in ihren Theorien. Der durch Muslime ermöglichte neue Zugang zu verschiedenen Wissenschaften reformierte das Bildungssystem Europas konstitutiv. Die Scholastik blühte an den mittelalterlichen Universitäten, insbesondere in Städten wie Paris, Oxford und Köln. Die Universitäten wurden zu wichtigen Zentren des Wissens und der intellektuellen Debatte. All das bereitete schließlich das Fundament für die Renaissance, auf das dann die Aufklärung folgte. 

Ein Denker fungierte dabei als Übergangsfigur zwischen Renaissance und Aufklärung: der französische Philosoph René Descartes. Seine Bedeutsamkeit für die weitere Entwicklung der europäischen Ideengeschichte wird durch ein einprägsames Zitat von Hegel manifest: 

„Wir kommen eigentlich jetzt erst zur Philosophie der neuen Welt und fangen diese mit Cartesius an. Mit ihm treten wir eigentlich in eine selbständige Philosophie ein, welche weiß, daß sie selbständig aus der Vernunft kommt und daß das Selbstbewußtsein wesentliches Moment des Wahren ist.“

Mit Descartes beginnt also ein neues Denken, eine neue wissenschaftliche Herangehensweise, die zwar immer noch stark auf die antiken Griechen rekurriert, aber die Scholastik dahingehend kritisiert, als dass sie zu autoritätshörig sei. Einige Denker der Aufklärung kritisierten scholastische theologische Dogmen, die nicht mit den Prinzipien der Vernunft vereinbar schienen.
Descartes und die Aufklärer führten die Methode des systematischen Zweifels ein, um zu Gewissheit und Wahrheit zu gelangen. Mit seinem methodischen Zweifel stellt Descartes systematisch alles in Frage, woran man zweifeln kann, was letztlich zum berühmten Schluss „Cogito, ergo sum“ (Ich denke, also bin ich) führt. Dieser wirkmächtige cartesische Zweifel ist tatsächlich in milder Form bereits im 12. Jahrhundert beim muslimischen Denker Al-Ghazali vorzufinden. In seinem Werk „Al-Munqidh min al-Dalal“ (Die Befreiung von Irrtümern) beschreibt Al-Ghazali seine persönliche Reise des Zweifels und der Suche nach Gewissheit. Exemplarisch für den cartesischen Zweifel ist das Traumargument, das Descartes wie folgt begründet:


„[Es ist] kein Merkmal gegeben […], um den Traum vom Wachen sicher zu unterscheiden.“

Interessanterweise prägte Al-Ghazali bereits 500 Jahre zuvor ein nahezu identisches Gleichnis, in dem er ebenfalls das Traumargument anführte, um zu zeigen, dass Sinneserfahrungen in einem Traum genauso real erscheinen können wie im Wachzustand. Dies sollte dazu dienen, die Vorstellung zu untergraben, dass die Sinneserfahrungen allein als Quelle wahren Wissens dienen können.

Auch beim cartesischen Dualismus ist eine offenkundige Analogie zwischen beiden festzustellen, wonach zwischen Körper und Geist unterschieden wird. Schließlich kritisierte Al-Ghazali die bloße Befolgung von Traditionen und Autoritäten – beide sind elementare Bestandteile der cartesischen Philosophie. Die auffälligen Parallelen zwischen Descartes und Al-Ghazali sind kein Zufall, sondern sind darauf zurückzuführen, dass Descartes die Werke von Al-Ghazali gelesen hat, wie bspw. durch einen Vermerk in der cartésien-Sammlung der Bibliothèque Nationale in Paris belegt wird. Ergo war in Person von Descartes jener Philosoph ideengeschichtlich von muslimischen Theorien inspiriert, der laut großen Denkern wie Hegel in die neue Welt der Philosophie einführte. 

Dabei würde allein der nachdrückliche Rekurs der Aufklärer auf die antiken Griechen und die Kommentare von Ibn Rushd, Ibn Sina und Al-Farabi reichen, um den ideengeschichtlichen Einfluss des Islam auf das Europa im Zeitalter der Aufklärung zu untermauern. Wie zu Beginn des Textes erklärt, sind die westlichen Werte wie Demokratie, Menschenrechte, Liberalismus usw. zuvörderst in der Zeit der Aufklärung in einer „modernen“ Lesart erarbeitet worden. Der Analogieschluss zum Islam sollte inzwischen für jedermann evident sein. 

Wie sehr die Aufklärer vom Islam inspiriert und beeinflusst waren, wird durch den bedeutenden Dichter Gotthold Ephraim Lessing deutlich. Im Jahr 1754 äußerte sich Lessing erstmals in seiner eigenen Schrift “Die Rettung des Hieronymus Cardanus” zum Islam. Cardanus, ein Universalgelehrter der Renaissance, hatte 1550 ein Buch veröffentlicht, in dem Vertreter verschiedener Religionen über die wahre Religion stritten, wobei der Christ am Ende siegte, was Lessing missfiel. Lessing kritisierte Cardanus dafür, sich nicht ausreichend mit dem Islam auseinandergesetzt zu haben, bevor er diesen Religionsvergleich anstellte. Daraufhin führte Lessing seinen eigenen Religionsvergleich durch und ließ einen Muslim auftreten, der den Islam in Lessings Worten wie folgt darstellte: 

„Wirf einen Blick auf sein [Muhammads] Gesetz! Was findest Du darinne, das nicht mit der allerstrengsten Vernunft übereinkomme?“

Diametral zur heutigen Vorstellung über den Islam empfand Lessing den Islam als sehr vernünftig und natürlich. Diesen Eindruck verstärkte er 20 Jahre später mit folgender Aussage: 

„Ich getraue mir, […] das Vornehmste der natürlichen Religion aus dem Alkoran gar deutlich und zum Teile gar schön ausgedruckt darzutun, und glaube, dass ich bei Verständigen leicht darin Beifall finden werde, dass fast alles Wesentliche in Mahomets Lehre auf natürliche Religion hinauslaufe.“

Ein weiterer großer Dichter und Denker, der zeitgleich zu Lessing lebte, war derart vom Islam fasziniert, dass er seiner schwer erkrankten Schwiegertochter zum Trost schrieb: 

„Weiter kann ich nichts sagen, als dass ich auch hier im Islam zu halten suche.“

Als 10 Jahre später Cholera um sich griff, sprach dieser Dichter dieses Mal Adele Schopenhauer mit ähnlichen Worten Mut zu: 

„Hier kann niemand dem anderen raten, beschließe, was zu tun ist, jeder bei sich. Im Islam leben wir alle, unter welcher Form wir uns auch Mut machen.”

Auch wenn man das womöglich schwer annimmt, stammen diese beiden Zitate nicht von einem Muslim, sondern vom wohl größten deutschen Dichter aller Zeiten: Johann Wolfgang von Goethe. Sprichwörtlich wird oft gesagt, dass in schweren Zeiten sichtbar wird, was einem wirklich wichtig ist. Die Tatsache, dass Goethe in Zeiten der Sorge den Islam nicht nur als Stütze für sich, sondern auch für seine Mitmenschen sah, legt unmissverständlich offen, wie tief er von der islamischen Ideengeschichte geprägt war.

„Ob der Koran von Ewigkeit sei? Darnach frag ich nicht! Daß er das Buch der Bücher sei, Glaub ich aus Mosleminenpflicht“,

erklärte Goethe hochachtungsvoll über die Hauptquelle des Islam. Folglich sind persönliche Ansichten nach Goethe belanglos, denn es ist:

„Närrisch, daß jeder in seinem Falle Seine besondere Meinung preist! Wenn Islam Gott ergeben heißt, Im Islam leben und sterben wir alle.“

Auch Goethe war, wie die Scholastiker und Descartes, zweifach vom Islam beeinflusst. Einerseits implizit durch den Bezug zu den antiken Griechen und insbesondere zu Aristoteles, dessen Tugenden er als erstrebenswert erachtete. Andererseits direkt, indem Goethe wie Lessing von der islamischen Theologie fasziniert war, die als Naturreligion Gefühlswelt und Vernunft vereinte. 

Es ist bemerkenswert, dass viele der größten Dichter und Denker eine derartige Bewunderung für den Islam hatten und ihn als kulturelle sowie geistige Bereicherung sahen. Umso erstaunlicher ist es, dass heute in Deutschland der Islam und der Heilige Qur’an von vielen als irrational und kulturfremd angesehen werden. Jedem sollte jedoch klar sein, wie stark der Islam ideengeschichtlich unsere abendländische Kultur beeinflusst hat. Bertrand Russel hat es in seinem Werk „Die Philosophie des Abendlandes“ auf den Punkt gebracht: 

„Der Kontakt mit den Mohammedanern [er meint Muslime] in Spanien und in geringerem Maße in Sizilien brachte dem Westen Aristoteles näher, ebenso wie arabische Ziffern, Algebra und Chemie. Dieser Kontakt leitete die Wiederbelebung des Lernens im 11. Jahrhundert ein, die zur scholastischen Philosophie führte. Wenn die Araber die Tradition nicht bewahrt hätten, hätten die Menschen der Renaissance vielleicht nicht vermutet, wie viel durch die Wiederbelebung des klassischen Lernens gewonnen werden könnte“

Prägnanter, aber genauso treffend formulierte es Professor Frieder Otto Wolf von der FU Berlin:

„Ohne die islamische Philosophie hätte es weder Scholastik noch Aufklärung geben können.“

Ergo hätten die Werte und die Kultur, auf die wir heute in Deutschland so stolz sind, ohne die Muslime nicht existieren können. Aus diesem Grund schreibt der Mittelalterhistoriker Borgolte: 

„Islam gehört zu den Fundamenten deutscher Kultur. Ohne den Islam keine Scholastik, keine Universitäten und keine Wissenschaft in unserer heutigen Form.“

Der Einfluss des Islam ist demnach nicht hoch genug zu schätzen und zieht daher laut dem Professor und Historiker Montgomery Watt eine besondere Verantwortung für den Westen nach sich: 

„Der Islam teilte nicht nur mit Westeuropa viele materielle Produkte und technologische Entdeckungen, er regte Europa auch intellektuell in den Bereichen Wissenschaft und Philosophie an. Darüber hinaus zwang er Europa dazu, ein neues Bild von sich selbst zu formen. Da Europa gegen den Islam reagierte, bagatellisierte es den Einfluss der Sarazenen und übertrieb seine Abhängigkeit von seinem griechisch-römischen Erbe. Daher ist es heute für uns Westeuropäer, da wir in das Zeitalter einer Weltgemeinschaft eintreten, eine wichtige Aufgabe, diese falsche Betonung zu korrigieren und unsere Schuld gegenüber der arabischen und islamischen Welt vollständig anzuerkennen.“

Watt spricht von einer Schuld, die der Westen gegenüber dem Islam hätte, da der Westen ihm für seine Wirkmacht nie gebührend Anerkennung zollte. Schuld ist ein sehr starker Ausdruck, möglicherweise zu stark, aber Verantwortung trifft auf jeden Fall zu. Diese Verantwortung bedeutet, endlich anzuerkennen, dass der Islam zu Deutschland gehört, und zwar schon viel länger, als Muslime hier leben. Er hat die Ideengeschichte Deutschlands und Europas maßgeblich geprägt. Daher ist es in Anbetracht der aufgezählten Verläufe paradox, in einem Grundsatzprogramm zu behaupten, dass nur Muslime, die unsere Werte teilen, zu Deutschland gehören. Dabei waren wir doch 2006 schon weiter, als Schäuble sagte:

„Der Islam ist Teil Deutschlands und Europas.“

Selbst das ist angesichts der aufgeführten Zitate zahlreicher Denker über den Einfluss des Islam auf Europa sehr zurückhaltend formuliert. Es ist bedauerlich, dass ein Muslim 200 Jahre alte Schriften lesen muss, um Anerkennung für seine Religion zu finden. Watt formulierte im genannten Zitat eine Verantwortung für Europa, von der wir uns mit dem aktuellen Diskurs immer weiter entfernen, statt uns dieser Verantwortung zu nähern. Die falsche Betonung müsse nach Watt korrigiert werden, indem der Einfluss des Islam auf unsere Kultur anerkannt wird. Wenn wir uns wie Goethe und Lessing aufrichtig mit dem Islam befassen, werden wir nicht nur erkennen, dass er unsere Kultur in Vergangenheit geprägt hat, sondern dass er uns auch in Zukunft bereichern kann. 

Um das zu verstehen, bedarf es einer Analyse der Moderne als Epoche nach der Aufklärung, die bezüglich des islamischen Einflusses bisher nicht beleuchtet wurde. Meines Erachtens kann der Islam hier, wie in den vergangenen Epochen, die „gegenwärtige Kultur“ ungemein bereichern, womöglich stärker als je zuvor. Die Moderne ist wahrscheinlich die dynamischste Epoche und fällt immer wieder durch zwei konträre Therapievorschläge auf: Uniformierung und Pluralisierung. Zeitgenössische Soziologen plädieren daher dafür, dass ein Gleichgewicht zwischen Individuum und Gemeinschaft geschaffen werden muss. Andreas Reckwitz schlägt einen Mittelweg aus industrieller Moderne und Spätmoderne vor, bei dem die Logik des Allgemeinen und des Singulären zusammengedacht wird. Paul Verhaeghe sieht eine neue Ethik als notwendig, die auf Balance zwischen Autonomie und Individualität bedacht sein muss. Dieses Gleichgewicht ist deswegen so wichtig, weil der Mensch aus zwei gegensätzlichen Neigungen besteht, die Durkheim mit dem Begriff homo duplex beschrieb. Demnach hat der Mensch eine individuelle Natur, die von Trieben und Wünschen geleitet ist, und eine soziale Natur, die kollektive Normen und Werte erfordert. Ähnliches beschreibt Freud mit der emotionalen Instanz „Es“ und der moralischen Instanz „Über-Ich“. Alle genannten Denker verwenden verschiedene Begriffe, möchten aber alle dasselbe erreichen: Harmonie zwischen den zwei konträren Neigungen im Menschen, die durch die Moderne nicht hergestellt werden konnte. 

Philosophen der Romantik wie Hegel, Schelling, Hölderlin und Schlegel erwarteten für die Realisierung dieser Harmonie eine neue Mythologie, die durch eine Messias-Figur hervorgebracht werden sollte. Jetzt kommt der entscheidende Punkt: Dieser Messias sollte die Schätze des Orients und Okzidents vereinen und in Indien erscheinen. 

Es gibt eine muslimische Gemeinde, die an eine Ethik glaubt, die eine Balance zwischen Individuum und Gesellschaft schafft. Eine Gemeinschaft, deren Lehre eine Harmonie zwischen Trieben und Moral ermöglicht. Und vor allem eine Gemeinschaft, die an einen Messias glaubt, der 1889 in Indien erschienen ist. Die Rede ist von der muslimischen Reformgemeinde Ahmadiyya Muslim Jamaat (kurz: AMJ). Als älteste organisierte muslimische Gemeinde Deutschlands erfüllt sie sowohl das Bedürfnis der Moderne als auch das Verlangen Deutschlands nach deutschen Muslimen. Mit ihrer Kampagne „Wir sind alle Deutschland“ bekennen sich die Mitglieder der AMJ dezidiert zu Deutschland und sehen die Achtung des Grundgesetzes als Teil ihres Glaubens. Aus Liebe zu Deutschland stehen sie zum Neujahr frühmorgens auf und beseitigen den Silvestermüll, während die meisten Menschen nach einer langen Silvesterfeier schlafen. Sie unterstreichen mit jeder ihrer Aktionen, dass der Islam zu Deutschland gehört.

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