
von Tariq Mahmood
Es mag seltsam erscheinen, dass jedes Jahr Millionen von Menschen um die halbe Welt reisen, nur um einen schwarzen Würfel zu umrunden.
Doch oft bleibt dies das Einzige, was viele über die Hadsch wissen – sofern sie überhaupt davon gehört haben. Dabei ist die Hadsch eine der fünf grundlegenden Säulen des Islam und weit mehr als nur das Kreisen um die Kaaba, jenen schwarzen Würfel, den man auf so vielen Bildern sieht.
Was sind die Hadsch und die Kaaba?
Das Wort Hadsch bedeutet »sich zu einem Objekt der Ehrfurcht und Verehrung begeben«. Allgemein kann es als Pilgerreise verstanden werden. Im islamischen Kontext bezeichnet es speziell die rituelle Reise nach Mekka und dessen Umgebung (im heutigen Saudi-Arabien) während des Mondmonats Dhu l-Hiddscha (wörtlich: »der Monat, der die Hadsch beinhaltet« und zugleich der zwölfte Monat im islamischen Mondkalender).
Der islamische Mondkalender umfasst ebenfalls zwölf Monate, doch da diese kürzer sind als die Monate des Sonnenkalenders, verschieben sich die Tage des Dhu l-Hiddscha jedes Jahr.
Die Kaaba ist zweifellos die heiligste Stätte des Islam. Sie ist das Gebäude, zu dem sich Muslime weltweit fünfmal täglich im Gebet ausrichten und bildet das Zentrum der Hadsch. Nach islamischem Glauben existiert die Kaaba seit Jahrtausenden.[1] Mehr dazu später.
Der Prophet AbrahamAS und die Wiederbelebung der Hadsch
Nach islamischer Überlieferung war der Stammvater AdamAS zugleich ein Prophet, der ursprüngliche Erbauer der Kaaba und damit auch der erste Pilger.[2] Doch mit der Zeit geriet sie in Vergessenheit. Erst der Prophet AbrahamAS errichtete ihre Mauern auf den alten Ruinen erneut und legte so die Grundlage für die heutige Form der Hadsch. Der Vierte Kalif der Ahmadiyya Muslim Gemeinde, Hadhrat Mirza Tahir AhmadRH, erklärt:
»Die Institution der Pilgerfahrt lässt sich bis in die Zeit AbrahamsAS zurückverfolgen. Doch der Heilige Qur’an beschreibt sie als eine noch ältere Institution, die seit undenklichen Zeiten existiert, als das erste Haus Gottes in Mekka errichtet wurde. (…) AbrahamAS errichtete sie auf den Ruinen wieder, die er unter göttlicher Leitung entdeckte. Und Gott beauftragte ihn, dieses Bauwerk gemeinsam mit seinem Sohn IsmaelAS wiederaufzubauen.«[3]
Viele der Riten der Hadsch gehen auf das Leben von AbrahamAS, seiner Frau HagarAS und ihrem Sohn IsmaelAS zurück.
Ein Beispiel dafür ist das siebenmalige Hin- und Herlaufen zwischen den Hügeln Safa und Marwa. Dieser Ritus erinnert an die Zeit, als HagarAS mit ihrem noch kleinen Sohn IsmaelAS auf Gottes Geheiß von AbrahamAS in der arabischen Wüste zurückgelassen wurde. Verzweifelt suchte sie nach Wasser und lief dabei mehrfach zwischen den beiden Hügeln hin und her. Schließlich ließ Gott durch ein Zeichen göttlicher Hilfe eine Quelle aus dem Boden sprudeln – den heute als Zamzam-Brunnen bekannten Wasserlauf.
Mit der Zeit verfälschten jedoch einige heidnische Stämme die ursprüngliche Bedeutung der Hadsch, indem sie den reinen spirituellen Zweck durch abergläubische Rituale und die Vergötterung von Menschen ersetzten. Durch die spirituelle Revolution des Heiligen Propheten MuhammadSAW wurde die Hadsch in ihrer ursprünglichen Form, wie sie bereits AbrahamAS praktizierte, wiederbelebt und mit neuen spirituellen Aspekten ergänzt, um ihre Bedeutung zu vervollkommnen.
Wie ernst nehmen Mulime diese große Pilgerfahrt?
Die Hadsch ist für jeden Muslim verpflichtend, der dazu finanziell und körperlich in der Lage ist – mindestens einmal im Leben. Sie ist jedoch nicht für Kranke, Kinder oder Menschen verpflichtend, die sich die Reise nicht leisten können. Ebenso muss die Voraussetzung gewährleistet sein, dass die Reise in Sicherheit und ohne jegliche Gefährdung erfolgt.
Im Laufe der Geschichte kam es immer wieder vor, dass die Hadsch aufgrund gefährlicher Reisewege oder politischer Konflikte ausgesetzt wurde. In einigen Fällen wurde sie von den zuständigen Organisatoren selbst eingeschränkt, oder Pilger verzichteten freiwillig auf die Reise, da Kriege oder Seuchen sie zu gefährlich machten. Daher muss eine Person sicherstellen, dass eine Pilgerreise nach Mekka tatsächlich möglich und sicher ist.
Warum tragen alle weiße Kleidung?
Die Umrundung der Kaaba ist eines der bekanntesten Bilder der Hadsch. Männer tragen dabei ein einfaches, ungenähtes Gewand, das iḥrām genannt wird. Dieses schlichte Kleidungsstück symbolisiert die Gleichheit: Sowohl König als auch Bettler tragen dasselbe, um daran zu erinnern, dass vor Gott alle Menschen gleich sind.
Der Zweite Kalif der Ahmadiyya Muslim Gemeinde, Hadhrat Mirza Bashiruddin Mahmud AhmadRA, erklärt dazu:
»Der iḥrām erinnert an den Tag der Auferstehung. Ähnlich wie das Leichentuch eines Verstorbenen ist der Pilger lediglich mit zwei ungenähten Tüchern bekleidet – eines für den Oberkörper, eines für den Unterkörper. Zudem muss er seinen Kopf unbedeckt lassen. Diese Bedingung dient dazu, ihn daran zu erinnern, dass er hier gewissermaßen von den Toten auferstanden ist.«[4]
Warum rasieren sich Männer den Kopf?
Allah, der Erhabene, gebietet Muslimen, sich nach der Opfergabe während der Hadsch die Haare zu rasieren oder zu kürzen:
»Und vollziehet die Pilgerfahrt [Hadsch] und die ʿumra um Allahs willen: Seid ihr aber verhindert, dann das leicht erhältliche Opfer; und schert eure Häupter nicht eher, als bis das Opfer seinen Bestimmungsort erreicht hat.«[5]
Ebenso sagt Allah: »Ihr würdet gewisslich, so Allah will, in die Heilige Moschee eintreten in Sicherheit, mit geschorenem Haupt oder mit kurz geschnittenem Haar; ihr würdet keine Furcht haben.«[6]
Diese Verse zeigen, dass ein muslimischer Mann nach der Schlachtung des Opfertiers sein Haar scheren oder kürzen muss, während Frauen lediglich eine kleine Strähne abschneiden müssen.
Es wird begründet, dass Allah eine solche Handlung befiehlt, um Demut und Aufrichtigkeit im Verhalten eines Muslims sichtbar zu machen. Er versteht, dass die Hadsch den Pilger nicht über andere erhebt, sondern ihm die Möglichkeit gibt, demütig zu sein und durch Bescheidenheit und Demut Allahs Wohlgefallen zu erlangen.
Warum werden Tiere geopfert?
Das Opferfest (ʿīdu l-ʾaḍḥā) am Ende der Hadsch geht auf ein bedeutsames und erstaunliches Ereignis zurück, das sich vor Tausenden Jahren in Mekka ereignete – lange vor der Zeit des Heiligen Propheten MuhammadSAW. Nach islamischer Überlieferung erhielt der Prophet AbrahamAS von Allah den Befehl, seine Frau HagarAS und seinen Sohn IsmaelAS in der Wüste Arabiens zurückzulassen.
Der Prophet AbrahamAS tat dies schweren Herzens und brachte dieses Opfer um Allahs willen dar. Jahre später, als IsmaelAS herangewachsen war, hatte AbrahamAS einen Traum, in dem er seinen eigenen Sohn opferte. Er deutete dies als göttlichen Befehl und teilte seinem Sohn seine Absicht mit. IsmaelAS zeigte sich gehorsam und sprach: »O mein Vater, tu, wie dir befohlen; du sollst mich, so Allah will, standhaft finden.«[7]
Gerade als AbrahamAS seinen Sohn opfern wollte, erschien ein Engel und verkündete, dass die göttliche Prüfung bereits bestanden sei. Statt IsmaelAS sollte er einen Widder opfern. Zur Erinnerung an dieses Ereignis wurde das Tieropfer während der Hadsch zur festen Tradition. Es soll die Gläubigen daran erinnern, dass wahre Hingabe bedeutet, das für Allah zu opfern, was einem am meisten am Herzen liegt, um Ihm näherzukommen.[8]
Warum umrunden alle die Kaaba?
Die Kaaba wird von Gott als das erste Haus Seiner Anbetung beschrieben. Im Heiligen Qur’an heißt es:
»Wahrlich, das erste Haus, das für die Menschheit gegründet wurde, ist das zu Bakka – überreich an Segen und als Richtschnur für alle Völker.«[9]
In diesem Vers bezieht sich »Bakka« auf Mekka. Muslime umrunden die Kaaba, weil Allah, der Allmächtige, sie als den Mittelpunkt des Islam bestimmt hat, sodass sie in der Nähe des Gotteshauses mit größerer Inbrunst und Ergriffenheit Seiner gedenken. Sie denken daran, dass ihr einziger Fokus Gott sein sollte – so wie ein Planet die Sonne umkreist und Untertanen ihrem König treu sind, macht der Muslim Gott zu seiner höchsten Priorität.
Werfen Muslime Steine auf Satan?
Während der Hadsch gibt es drei Steinsäulen, die symbolisch für Satan stehen: ǧamaratu d-dunyā, ǧamaratu l-wusṭā und ǧamaratu l-ʿaqaba. Muslime glauben nicht, dass diese Säulen tatsächlich Satan selbst darstellen. Das Bewerfen mit Kieselsteinen ist vielmehr eine symbolische Handlung: Durch diesen Ritus bringen sie ihre Ablehnung gegenüber Satan zum Ausdruck und bekräftigen ihren Widerstand gegen Versuchung und Ungehorsam gegenüber Allah. Hadhrat Mirza Bashiruddin Mahmud AhmadRA erklärt dazu:
»Das Werfen der Kieselsteine auf diese Säulen symbolisiert auch die Steinigung Satans – böse Gedanken sollten aus dem Kopf vertrieben werden, so wie Gottt Satan aus Seiner Gegenwart vertrieben hat.«[10]
Was erzielen Muslime durch die Hadsch?
Diese Frage ist der Kern der Hadsch: Warum begeben sich Muslime auf diese Reise nach Mekka? Die Antwort darauf ist vielschichtig.
Der wichtigste Grund ist natürlich, dem Gebot Gottes nachzukommen und die Beziehung zu Ihm zu stärken. Doch die Hadsch bringt noch viele weitere Segnungen mit sich.
Muslime werden durch die Hadsch an die Wurzeln ihres Glaubens erinnert – sie gehen dieselben Wege, die bereits der Heilige Prophet MuhammadSAW beschritt. In einer Umgebung, die frei von weltlichen Ablenkungen ist, können sie sich vollkommen auf ihre spirituelle Entwicklung konzentrieren.
Dabei kommen tiefgreifende Fragen auf:
Bin ich ein guter Mensch? Wie kann ich mich verbessern? Was habe ich falsch gemacht, und wie kann ich um Vergebung bitten? Wie kann ich besser mit meinen Mitmenschen umgehen und einen positiven Beitrag für die Gesellschaft leisten?
All diese Gedanken begleiten die Gläubigen, während sie um die Kaaba gehen oder unter dem offenen Himmel in Muzdalifa verweilen.
Es ist ein überwältigendes Gefühl. Die Last der Welt drückt auf die Schultern der Pilger, und sie wenden sich mit voller Inbrunst an Gott, beten um Kraft, um Vergebung – und vor allem um die Möglichkeit, ein gerechterer Mensch zu werden. Nicht nur gegenüber dem Schöpfer, sondern auch gegenüber der Schöpfung.
In diesen intensiven Momenten fühlt sich ein Muslim Gott besonders nahe, während Millionen von anderen Gläubigen genau dasselbe tun: Sie beten zu demselben Gott und versprechen und streben danach, besser zu werden. Tag für Tag werden ihnen neue Aspekte ihres Lebens bewusst. Wenn sie symbolisch Steine auf die Säulen werfen, denken sie an ihre eigenen Sünden. Sie fassen den Entschluss, schlechte Gewohnheiten abzulegen und ein neues Kapitel aufzuschlagen. Jede Handlung während der Hadsch hat eine tiefere spirituelle Bedeutung.
Jeder Schritt bei der Umrundung der Kaaba steht für einen Schritt auf dem Weg zu Gott – sei es durch Reue, durch die Bitte um Hilfe gegen das eigene Ego oder um mehr Demut. Während der Hadsch verweilen Muslime in sehr einfachen Verhältnissen: Sie schlafen unter freiem Himmel, gehen lange Strecken zu Fuß und verzichten auf Komfort. Doch gerade dadurch werden sie innerlich gestärkt – und damit auch ihre Beziehung zu Gott.
Dies ist der wahre Schatz der Hadsch: eine Erfahrung, die sie für immer verändert.
Lehre fürs Leben
Dies erinnert mich an die Worte von Malcolm X nach seiner Hadsch. Lange Zeit war er Mitglied der »Nation of Islam« und vertrat eine Weltanschauung, in der er weiße Menschen ablehnte. Doch nach seiner Rückkehr aus Mekka sagte er:
»Hier in Mekka gibt es Muslime aller Hautfarben und sozialen Schichten aus allen Teilen der Welt … Ich habe mit Menschen gegessen, aus demselben Glas getrunken, auf demselben Teppich geschlafen und zu demselben Gott gebetet – mit Muslimen, deren Haut so weiß war wie Schnee, deren Augen so blau waren wie der Himmel und deren Haare blond waren wie Gold – und es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich sie nicht als Weiße betrachtet habe.«[11]
Das ist eine großartige Lehre der Hadsch – eine, die bereits der Heilige ProphetSAW selbst lehrte.
In seiner Abschiedspredigt, vor der größten Versammlung von Muslimen zu seinen Lebzeiten, rief er aus:
»Allah hat euch zu Brüdern gemacht, also spaltet euch nicht! Ein Araber ist nicht besser als ein Nicht-Araber, und ein Nicht-Araber nicht besser als ein Araber. Ein Weißer ist nicht besser als ein Schwarzer, und ein Schwarzer ist nicht besser als ein Weißer.«[12]
Während Muslime auf der Hadsch Menschen aus verschiedenen Kulturen, Ethnien und Lebensweisen begegnen, wird ihnen eines bewusst: Wenn der Islam sie vereint hat, dann sind ihre Unterschiede letztlich von keiner Bedeutung.
Das ist der Grund, warum Muslime die Hadsch vollziehen, und das ist die Art, wie sie es tun. Wenn Sie also das nächste Mal von Hadsch, Mekka oder Arabien hören, erinnern Sie sich an das schöne Bild der Hadsch: die Vereinigung der Menschheit.
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Quellen:
[1] Hadhrat Mirza Bashiruddin Mahmud AhmadRA, The Five Volume Commentary, Siehe Kommentar Nr. 134.
[2] Rizwan Safir, History of the Ka’bah, The Review of Religions, 13. November 2014. Abgerufen am 26. Mai 2024. https://www.reviewofreligions.org/11343/history-of-the-kabah/
[3] Hadhrat Mirza Tahir AhmadRH, An Elementary Study of Islam, Kapitel: Hajj – The Pilgrimage (Tilford, Surrey: Islam International Publications Ltd., 2010), S. 41.
[4] Hadhrat Mirza Bashiruddin Mahmud AhmadRA, The Five Volume Commentary, Bd. 1, S. 330.
[5] Der Heilige Qur’an, 2:197.
[6] Der Heilige Qur’an, 48:28.
[7] Der Heilige Qur’an, 37:103.
[8] Hadhrat Mirza Bashir AhmadRA, The Life & Character of the Seal of Prophets, Vol. 1 (Tilford, Surrey: Islam International Publications Ltd., 2018).
[9] Der Heilige Qur’an, 3:97.
[10] Hadhrat Mirza Bashiruddin Mahmud AhmadRA, The Five Volume Commentary, Bd. 1, S. 330.
[11] https://www.nytimes.com/1964/05/08/archives/malcolm-x-pleased-by-whites-attitude-on-trip-to-mecca.html
[12] Muhammad Zafrulla Khan, Muhammad: Seal of the Prophets (London, UK: Routledge and Kegan Paul, 1980). https://www.alislam.org/book/muhammad-seal-prophets/farewell/.
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