von Farrukh Tahir & Tariq Mahmood, Canada
In den sozialen Medien werden Informationen gerne verdreht. Bis sie uns als Konsumenten erreichen, sind die Informationen von ihrer faktischen Glaubwürdigkeit befreit und mit Emotionen, persönlichen Meinungen und falschen Vorstellungen überlagert.
Wenn sich indes etwas in der Welt entwickelt, ist der Kontext dieser Entwicklung entscheidend, und jeder und jede Einzelne sollte alle Fakten kennen, bevor er oder sie sich eine Meinung bildet. Manche Zusammenhänge sind selbsterklärend, aber manchmal müssen sie von der Quelle oder den beteiligten Parteien aufgezeigt werden.
Das ist aber auch der Punkt, an dem der Missbrauch einer Erzählung einsetzen kann. Szenarien rund um ein Ereignis werden weggelassen, um den Konsumenten zu einer bestimmten Meinung zu bekehren, um die Unterstützung der Massen zu gewinnen oder sie zumindest dazu zu bringen, gleichgültig gegenüber bestimmte Missstände zu werden.
In der heutigen von Medien geprägten Welt haben auch Medienhäuser dazu beigetragen, verzerrte Erzählungen zu verbreiten und so die Massen gegeneinander aufgehetzt. Und auch der Islam ist wiedermal zur Zielscheibe solcher Angriffe geworden.
Unter der Fülle von Behauptungen, die meist von Islamkritikern und islamfeindlichen »Experten«, die den Kontext vernachlässigen, aufgestellt werden, sticht eine aufgrund ihres schrillen Aufhängers hervor: »Muhammad hat 600 Juden hingerichtet, um seine Kontrolle in Medina durchzusetzen.«
Die Geschichte hinter dieser Verleumdung
Nach 13 Jahren unerbittlicher Verfolgung war der Heilige Prophet (saw) im Jahr 622 n. Chr. gezwungen, Mekka zu verlassen und in eine nahe gelegene Stadt namens Yathrib, später Medina, zu ziehen. Zu dieser Zeit bestand die Bevölkerung der Stadt aus Polytheisten – von denen die Mehrheit dann den Islam angenommen hat – und drei jüdischen Stämmen.
Als der Prophet (saw) in Medina ankam, stellte er zunächst eine “Charta des Friedens” auf. Diese Charta wurde sowohl von den Muslimen als auch von den jüdischen Stämmen in Medina unterzeichnet.
In diesem Vertrag wurde festgelegt, dass die Muslime und die Juden von Medina in Frieden und Harmonie leben und sich nicht gegeneinander verschwören oder einander Schaden zufügen würden. In der Charta wurde auch festgelegt, dass jeder, der ein Verbrechen begeht – sei es ein Verstoß gegen die Charta selbst oder ein anderes -, nach Rechtssprechung seines eigenen göttlichen Buches beurteilt wird. Alle Parteien nahmen diese Charta einstimmig an.
Im Laufe der Zeit verstießen die jüdischen Stämme gegen die Bestimmungen des Vertrags, und zwei von ihnen wurden in Folge aus Medina verbannt. Dies war eine verhältnismäßig milde Strafmaßnahme, vor allem im Vergleich zu der Strafe für den Bruch eines Bundes, wie ihn das jüdische Gesetz vorschreibt.
Ein jüdischer Stamm jedoch, nämlich die Banu Quraizah, lebte weiterhin an der Seite der Muslime in Medina.
Gleichzeitig kämpften die Muslime in einer Reihe von Schlachten gegen ihren frühesten Feind, die Götzendiener von Mekka. Diesmal sollte sich das gesamte heidnische Arabien mit ihnen vereinigen und vor die Tore Medinas ziehen, um die Muslime vollständig zu vernichten.
Die Muslime gruben einen Graben, um Medina an seiner verwundbarsten Front zu schützen, während die anderen Fronten durch große Bäume, Felsbrocken und die Häuser der Bewohner geschützt wurden. Auf der anderen Seite der Stadt waren sie durch den Stamm der Banu Quraizah geschützt.
Vor der Schlacht machte sich Huyayy bin Akhtab, ein Oberhaupt eines verbannten jüdischen Stammes, auf den Weg zum Oberhaupt der Banu Quraizah. Huyayy wollte die in Madinah verbliebenen Juden gegen die Muslime aufhetzen und versuchte daher, den Anführer der Banu Quriazah, Ka’b bin Asad, davon zu überzeugen, die Muslime zu verraten und den Makkanern den Angriff auf Madinah zu gestatten.
Ka’b zeigte sich zunächst integer und weigerte sich, die Muslime zu verraten, da er zugab, dass der Prophet Muhammad (sa) den von ihm geschlossenen Bündnissen stets treu geblieben war. Huyayy überzeugte ihn jedoch, indem er ihm die unmittelbar bevorstehende Zerstörung des Islam versicherte. Der Historiker R.V.C. Bodley schreibt in Bezug auf den Verrat des jüdischen Stammes: »Die Juden waren zunächst nicht geneigt, auf Abu Sufians (Führer der mekkanischen Streitkräfte) Vorschlag einzugehen, aber nach einer Weile gaben sie nach und erklärten sich bereit, die Muslime zu verraten, wenn die Zeit dafür günstig erschien.«1
Der Heilige Prophet (saw) erfuhr von diesem Verrat und schickte eine Delegation seiner Gefährten, um mit den Juden zu verhandeln, aber Ka’b hatte inzwischen seine Meinung geändert und bestätigte seinen Verrat, indem er den Bund leugnete, den er mit dem Heiligen Propheten (saw) geschlossen hatte.
Die Muslime in Gefahr
Nun wurden die Muslime bedroht von einer Armee von 10.000 bis 15.000 (oder nach anderen Überlieferungen 24.000) Soldaten an der Stadtgrenze von Medina und einem verräterischen jüdischen Stamm innerhalb der Stadt.
Während die feindlichen Streitkräfte an den Grenzen angriffen, waren die Muslime gezwungen, ihre begrenzten Ressourcen auf den inneren Straßen der Stadt zum Schutz vor den Juden zu konzentrieren, die sie verraten hatten. Ein Angriff aus dem Inneren Madinas hätte unweigerlich zivile Opfer unter unschuldigen Kindern und Frauen zur Folge gehabt. Die Muslime begannen derweil, die Drangsal und Not zu spüren, die mit einer Belagerung einhergehen.
Dies war die Situation, in der sich die Muslime befanden. Der Ausgang dieser Schlacht und die erfolgreiche Verteidigung Medinas durch die Muslime ist eine andere Geschichte. Kurz gesagt, waren dank der Weisheit der Muslime und der göttlichen Hilfe die feindlichen Truppen gezwungen, sich plötzlich zurückzuziehen.
Die Bedrohung aus dem Inneren
Nach der Zerstreuung der feindlichen Truppen aus Mekka machte sich der Heilige Prophet (saw) sofort auf den Weg, um der Bedrohung innerhalb Medinas zu begegnen. Als die Muslime bei der Festung des jüdischen Stammes ankamen, sahen sie, dass die Juden weder Reue noch Bedauern über ihren Verrat zeigten, sondern in ihrer Feindschaft gegen die Muslime sogar noch bestärkt wurden. Anstatt zu versuchen, die Angelegenheit friedlich zu regeln, bereiteten sich die Juden auf einen Kampf vor und verbarrikadierten sich in ihrer Festung.
Daraufhin belagerten die Muslime die Festung. Als die Juden der Belagerung überdrüssig wurden, schmiedeten sie einen Plan: Sie baten Abu Lubabah bin Mundhir (ra), einen Gefährten des Propheten Muhammad (saw), von dem sie glaubten, dass er ihnen wohlgewonnen war, zu kommen und über die Bedingungen ihrer Freilassung zu sprechen. Sie wollten ihn überzeugen, sich für das jüdische Volk einzusetzen, nachdem er ihre miserable Lage gesehen hatte.
Abu Lubabah riet den Juden, ihren Fall dem Heiligen Propheten (saw) selbst vorzutragen, teilte ihnen aber gleichzeitig mit, dass sie zum Tode verurteilt werden würden. Der Heilige Prophet (saw) hatte indes nie im Geringsten darauf hingewiesen. Infolgedessen blieben die Juden hartnäckig in ihrer Festung und wurden etwa 20 Tage lang weiter belagert.
Schließlich kamen die Juden aus ihre Festung, aber sie weigerten sich erneut, sich dem Heiligen Propheten (saw) zu stellen – der ihnen gegenüber ebenso gnädig gewesen wäre wie gegenüber den anderen jüdischen Stämmen. Stattdessen legten sie ihr Schicksal vollständig in die Hände eines anderen Muslims, Hazrat Sa’d bin Mu’adh, der zuvor ihr Verbündeter und Sympathisant gewesen war.
Das Urteil
Es ist erwähnenswert, dass einige Juden mit der kollektiven Entscheidung ihres Stammes nicht einverstanden waren. Von diesen nahmen einige den Islam an und andere baten darum, Medina zu verlassen. Als jedoch der vom jüdischen Volk gewählte Schiedsrichter, Sa’d bin Mu’adh, eintraf, vergewisserte er sich zunächst, ob die Juden, die Muslime und der Heilige Prophet (saw) das von ihm gefällte Urteil akzeptieren würden. Alle bestätigten, dass sie sein Urteil akzeptieren und befolgen würden.
So verurteilte Hadhrat Sa’d bin Mu’adh im Lichte der folgenden Passage aus dem Alten Testament und in Übereinstimmung mit dem jüdischen göttlichen Gesetz die jüdischen Kämpfer zum Tode, während ihr Vermögen, ihre Frauen und Kinder von den Muslimen genommen werden sollten.
“Wenn du dich einer Stadt näherst, um gegen sie zu kämpfen, dann rufe ihr Frieden zu. Und wenn sie sich dir zum Frieden bereit erklärt und sich dir öffnet, so soll alles Volk, das sich in ihr befindet, dir untertan sein und dir dienen. Will es aber keinen Frieden mit dir schließen, sondern Krieg gegen dich führen, so sollst du es belagern: Und wenn der Herr, dein Gott, sie in deine Hände gegeben hat, so sollst du alles, was männlich ist, mit der Schärfe des Schwerts erschlagen; aber die Weiber und die Kinder und das Vieh und alles, was in der Stadt ist, und alle Beute sollst du zu dir nehmen, und du sollst die Beute deiner Feinde essen, die dir der Herr, dein Gott, gegeben hat. So sollst du mit allen Städten tun, die dir der Herr, dein Gott, zum Erbe gibt: nichts Lebendiges soll übrigbleiben, was atmet: Sondern du sollst sie ganz und gar vertilgen, nämlich die Hethiter und die Amoiiter, die Kanaaniter und die Pheresiter, die Heviter und die Jebusiter, wie dir der Herr, dein Gott, geboten hat, damit sie dich lehren, nicht zu tun nach all ihren Gräueln, die sie ihren Göttern angetan haben, damit du dich nicht versündigst an dem Herrn, deinem Gott.«2
Die Juden wurden also genau der Strafe unterworfen, die in ihrer Heiligen Schrift steht, und sie nahmen sie willig an. Der Zweite Kalif (ra) der Ahmadiyya Muslim Gemeinde beschreibt die oben genannten Umstände wie folgt:
Hätten die Juden gewonnen und der Heilige Prophet (saw) verloren, so wären nach der Lehre der Bibel alle Muslime – Männer, Frauen und Kinder – getötet worden. Wir wissen aus der Geschichte, dass dies genau die Absicht der Juden war. Das Mindeste, was die Juden getan hätten, wäre gewesen, die Männer zu töten, die Frauen und Kinder zu versklaven und den Besitz der Muslime zu stehlen, wie es im Deuteronomium für feindliche Völker in fernen Teilen der Welt vorgeschrieben ist. Sa’d (ra) war mit den Banu Quraiza befreundet und sein Stamm war mit ihnen verbündet. Als er sah, dass die Juden sich geweigert hatten, das Urteil des Heiligen Propheten (saw) im Einklang mit der islamischen Scharia zu akzeptieren, die zweifellos ihr Leben geschützt hätte, sprach er das Urteil der Bestrafung nach dem jüdischen Gesetz aus, das der Prophet Moses (as) im Deuteronomium verkündet hatte. Die Verantwortung für dieses Urteil liegt weder beim Heiligen Propheten (saw) noch bei den Muslimen, sondern bei Moses (as) und seiner Lehre sowie bei den Juden, die andere Völker jahrhundertelang auf dieselbe Weise behandelt hatten. Sie weigerten sich, das Urteil des Heiligen Propheten (saw) zu akzeptieren, das auf Barmherzigkeit und Mitgefühl beruht hätte. Anstatt dies zu akzeptieren, bestanden sie auf einem Urteil von Sa’d (ra). Und Sa’d (ra) entschied, die Juden gemäß dem mosaischen Gesetz zu bestrafen.«3
In Anbetracht all dessen ist es eindeutig, dass der Heilige Prophet (saw) von jeder Anschuldigung in Bezug auf die Hinrichtung der Juden von Medina freigesprochen wird. Sollte diesbezüglich immer noch eine gewisse Unklarheit bestehen, können die folgenden Punkte berücksichtigt werden:
1) Das Urteil über den jüdischen Stamm, das als grausames Urteil gilt, wurde nicht vom Heiligen Propheten (saw) gefällt, sondern von Sa’d bin Mu’adh, dem Schiedsrichter der Wahl in den Augen des jüdischen Volkes.
2) Dieses Urteil war weder fehlerhaft, noch war es barbarisch. Gemäß dem Friedensvertrag, den sie mit den Muslimen geschlossen hatten, waren die Juden nach ihrem eigenen göttlichen Gesetz zu bestrafen, wenn sie den Vertrag verletzten; und der Vertrag wurde sogar in mehrfacher Hinsicht verletzt. Der Vertrag sah zum Beispiel vor, dass die Juden mit den Muslimen in Harmonie zusammenleben und die beiden Gruppen sich nicht gegenseitig schaden sollten. Zweitens sollten alle Streitigkeiten dem Heiligen Propheten (saw) als Staatsoberhaupt vorgelegt werden, und das Urteil sollte nach dem göttlichen Gesetz gefällt werden. Drittens: Wenn eine andere Nation Krieg gegen die Juden oder die Muslime führte, würde eine Partei die andere verteidigen. Und viertens würden sich im Falle eines Angriffs auf Medina alle Parteien an der gemeinsamen Verteidigung beteiligen. Der jüdische Stamm verstieß gegen alle oben genannten Klauseln.
3) Sa’d bin Mu’adh (ra) schloss mit allen Anwesenden einen Pakt, bevor er sein Urteil verkündete, und gemäß diesem Pakt waren alle verpflichtet, sein Urteil zu akzeptieren.
4) Die Juden selbst gaben ihren Verrat zu und akzeptierten dieses Urteil, da sie es als göttlichen Beschluss ansahen.
5) Ein Akt des Verrats, vor allem in Kriegszeiten, wurde immer mit Exekution bestraft. Wenn derjenige, der sich eines solchen Verbrechens schuldig gemacht hat, nicht streng bestraft wird, ist das eine Ungerechtigkeit gegenüber der Regierung, der Gesellschaft und ihren friedliebenden Bürgern.
6) Während der erwähnten Schlacht stellten die Juden den Frauen und Kindern in Medina in der Absicht nach, sie anzugreifen.
7) Jedem Juden, der diesem Urteil unterlag und der den Heiligen Propheten (saw) um Vergebung bat, wurde diese gewährt, und Muslime, die einem bestimmten Juden Aufschub gewähren wollten, durften dies tun.
8) Wenn es dem Heiligen Propheten Muhammad(saw) wirklich um das Blut der Juden gegangen wäre, hätte er dasselbe Urteil über die anderen jüdischen Stämme verhängt, die den Vertrag gebrochen hatten. Stattdessen hat er sie, wie bereits erwähnt, ziehen lassen.
Diese Maßnahme gegen den jüdischen Stamm ist also einerseits keineswegs fragwürdig, und sie kann andererseits gleichzeitig nicht dem Heiligen Propheten (saw) zugeschrieben werden. Selbst bei den Juden jener Zeit – und auch bei seinen Feinden – wurde der Prophet Muhammad (sa) als barmherziger, sanfter Führer gepriesen, der nur das Wohl der Menschheit im Sinn hatte. Zu seinen Lebzeiten gab es viele Fälle, in denen er die härtesten Urteile über seine Feinde und Unterdrücker fällen konnte, doch er wählte stets den Weg der Barmherzigkeit und strebte nach Versöhnung statt nach Vergeltung.
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Über die Autoren:
Farrukh Tahir ist Imam der Ahmadiyya Muslim Gemeinde in Kanada und Mitarbeiter der Zeitschrift The Review of Religions.
Tariq Mahmood ist Imam der Ahmadiyya Muslim Gemeinde in Kanada und Sekretär des »Existence Project” der Zeitschrift The Review of Religions.
Quellen:
[1] R.V.C Bodley, Der Gesandte; Das Leben Muhammads (1946), S. 207.
[2] Deuteronomium, 20:10-18
[3] Einführung in das Studium des Heiligen Koran, Anwar-ul-Ulum, Bd. 20, S. 162-165
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