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Islamische Kriegsethik: Auch Kämpfe haben Regeln

Das Völkerrecht der UNO gemessen an Islamischer Kriegsethik

von Sarmad Naveed

Der Verlust eines unschuldigen Lebens ist wie der Verlust der gesamten Menschheit. Ein unschuldiges Leben zu nehmen, entbehrt jeglicher Menschlichkeit. Aber wo zieht man im Wahnsinn des Krieges die Grenze zwischen dem Blutvergießen von Unschuldigen und „Kollateralschäden“?

Während die Welt mit Entsetzen das anhaltende Gemetzel in Gaza beobachtet, werden die Menschen zunehmend polarisiert. Manche nennen es Israel gegen Palästina. Andere nennen es Zionismus gegen Hamas. Wieder andere sind leidenschaftlich davon überzeugt, dass es sich um einen Krieg zwischen Judentum und Islam handelt.

Unabhängig von den Kommentaren hat der Angriff der Hamas auf Israel der falschen Vorstellung Auftrieb gegeben, der Islam sei eine militante Religion. Botschaften wie »Der Islam ist böse« befinden sich sowohl als Graffiti in Städten als auch in den Köpfen vieler Menschen auf der Welt. Das Traurige ist, dass anstatt irgendeine edle Mission zu erfüllen, die Hamas sowohl ihrer Religion als auch ihrem Volk einen schlechten Dienst erwiesen hat. Einfach ausgedrückt ist der Islam keine Religion der Gewalt, des Krieges oder des Blutvergießens. Er lehrt weder die Anwendung von Gewalt zur Eroberung von Ländern, noch duldet er es, anderen seine Lehren aufzuzwingen. Er ist eine Religion, die sagt, dass keine noch so große Feindschaft eine unverhältnismäßige Reaktion hervorrufen darf. Er ist eine Religion, die sagt, dass, wenn Gott Selbst die Menschen nicht gezwungen hat, auf eine bestimmte Weise zu handeln, wie könnten wir es dann? 

Ganz zu schweigen von der Anwendung von Gewalt, lehrt der Islam, die religiösen Gefühle anderer zu schützen. Und wenn der Heilige Prophet Muhammad (saw) sich im Krieg sogar für die Rechte der Bäume einsetzte und anordnete, dass diese nicht gefällt werden dürften, kann man  sich vorstellen, wie sehr der Islam die Unantastbarkeit des Lebens hochhält. Nichts von dem, was im Nahen Osten gerade geschieht, spiegelt diese grundlegenden islamischen Prinzipien wider. 

In der islamischen Geschichte gab es dennoch Schlachten, die von Muslimen fälschlicherweise zur Rechtfertigung von Gewalttaten und von Gegnern des Islam zur Verbreitung der Rhetorik, der Islam sei im Extremismus verwurzelt, herangezogen werden.

Vielleicht würden sich ihre Ansichten ändern, wenn sie einfach nur den Qur’an dort lesen würden, wo das Gebot erteilt wird, zu den Waffen zu greifen, um Synagogen, Kirchen, Tempeln und andere Gotteshäuser zu schützen. Gott hat jenen, die aus ihren Häusern vertrieben und ihrer Religionsfreiheit beraubt wurden, die Erlaubnis erteilt, hinauszugehen und die Religion selbst und all jene Orte, an denen Gott verehrt wird, zu schützen. 

Auch hier sieht man, dass keine der heute stattfindenden Aktionen unter diesen Bedingungen eine Rechtfertigung finden. Und selbst wenn es einen gerechtfertigten Grund gäbe, zu den Waffen zu greifen, gibt es im Islam seit seinem Entstehen Regeln, die einen vernünftigen Rahmen für eine Kriegsführung festlegen. 

Auch die Vereinten Nationen haben Richtlinien festgelegt, die von allen UN-Mitgliedsstaaten im Falle eines bewaffneten Konflikts einzuhalten sind. Einige Beispiele für diese Richtlinien sind:

»Die Streitkräfte der Vereinten Nationen müssen jederzeit klar zwischen Zivilisten und Kämpfern sowie zwischen zivilen Objekten und militärischen Zielen unterscheiden. Militärische Operationen dürfen sich nur gegen Kämpfer und militärische Ziele richten. Angriffe auf Zivilisten oder zivile Objekte sind verboten.«

»Den Streitkräften der Vereinten Nationen ist es untersagt, Waffen oder Kampfmethoden einzusetzen, die unnötiges Leid verursachen.«

»Die Streitkräfte der Vereinten Nationen dürfen sich nicht an Vergeltungsmaßnahmen gegen Zivilisten oder zivile Objekte beteiligen.«

»Den Streitkräften der Vereinten Nationen ist es untersagt, Objekte anzugreifen, zu zerstören, zu beseitigen oder unbrauchbar zu machen, die für das Überleben der Zivilbevölkerung unentbehrlich sind, wie z.B. Nahrungsmittel, Feldfrüchte, Viehbestand sowie Trinkwasseranlagen und -vorräte.«

»Frauen sind besonders gegen jegliche Angriffe zu schützen, insbesondere vor Vergewaltigung, Zwangsprostitution oder jede andere Form von unsittlichen Übergriffen.«

»Kinder sind besonders zu beachten und vor jeder Form von unsittlichen Übergriffen zu schützen«

Wenn sich die Hamas nicht an die von der UNO aufgestellten Kriegsregeln hält, dann sollte sie indes die islamischen Gesetze für den Kriegsfall befolgen. Bevor der Heilige Prophet (saw) eine Kompanie in den Krieg schickte, ermahnte er sie, »mit der Absicht, die Religion zu schützen«, loszuziehen und riet ihnen:

»Veruntreut nicht  die Beute und betrügt nicht das Volk.«

»Verstümmelt nicht die Toten des Feindes.«

»Tötet keine Frauen und Kinder und keine Geistlichen. Tötet nicht die Alten.«

»Schafft Frieden im Land und behandelt die Menschen mit Wohlwollen.«[1]

»Zerstört nicht das, was ihnen heilig ist.«

»Fällt keinen fruchtbaren Baum.«[2]

Diese Regeln mögen einem nun bekannt vorkommen. Sie sind nicht nur Jahrhunderte älter als die Genfer Konvention und alle anderen von der UNO aufgestellten Rahmenregelungen, sondern in ihnen spiegelt sich auch genau das wider, was die Welt heute fordert. 

Es geht hier um den zweiten Schaden, den die Hamas mit ihrem Anschlag ihrem eigenen Volk zugefügt hat und  wobei beide Seiten eine Rolle spielen. Denn obwohl der Krieg eigentlich zwischen Israel und der Hamas stattfindet, sind die Leidtragenden vor allem die Zivilisten in Palästina und Israel. 

Schockierende Bilder wie die eines Arztes, der in einem mit Verwundeten überfüllten Krankenhaus seine Visite macht und dann an ein Bett kommt, wo er seinen verstorbenen Sohn vorfindet, verdeutlichen die schrecklichen Gräueltaten, denen unschuldige Menschen auf beiden Seiten ausgesetzt sind. Das israelische Militär und die Hamas können die Rechnung untereinander begleichen, so sinnlos auch das sein mag. Aber noch sinnloser ist die Geschwindigkeit, in der Kinder ihr Leben verlieren. 

Seine Heiligkeit, Hadhrat Mirza Masroor Ahmad (aba), Fünfter Kalif und weltweites Oberhaupt der Ahmadiyya Muslim Gemeinde, unterstrich diesen Punkt, als er sagte:

»In dieser Hinsicht waren die Aktionen der Hamas falsch und haben mehr negative als positive Folgen. Die Folgen der Geschehnisse und der Krieg hätten indes auch auf die Hamas beschränkt bleiben müssen, dies hätte in Wahrheit wahre Tapferkeit und Mut ausgemacht. Nun sind aber auch die Maßnahmen der israelischen Regierung sehr gefährlich. Es scheint, als gäbe es kein Ende dieses Szenarios. Unmöglich sich vorzustellen, wie viele unschuldige Frauen und Kinder dabei ums Leben kommen werden.«

In diesen Tagen geht es viel darum, welche der beiden Flaggen die Menschen als Satusbild wählen oder ob sie einen Hashtag verwenden sollen, der Israel oder Palästina unterstützt. 

Die einzige Flagge, die jedoch gezeigt werden muss, und die einzigen Hashtags, die benötigt werden, sind die der Menschlichkeit. Menschlichkeit muss sich durchsetzen. Unschuldige Leben müssen gerettet werden, damit letztlich die Menschheit gerettet werden kann.

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Über den Autor: Sarmad Naveed ist Imam der Ahmadiyya Muslim Jamaat Gemeinde und hat am Ahmadiyya-Institut für Sprachen und Theologie in Kanada (Jamia) studiert. Er ist Online-Redakteur und Mitglied des Redaktionsausschusses von „The Review of Religions“ und koordiniert die Rubrik „Facts from Fiction“. Er ist auch als Diskussionsteilnehmer und Moderator von Sendungen auf Muslim Television Ahmadiyya (MTA) aufgetreten, wie z. B. “Ahmadiyyat: Roots to Branches”.

[1] Sunan Abi Dawud, Hadith 2614

[2] Al-Mawutta, Hadith 982

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