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Reisetagebuch: Humanity-First-Einsatz im Erdbebengebiet Türkei (Teil 2/3)

So langsam spüre ich die Müdigkeit und Erschöpfung der Arbeit der letzten Tage...

von Wahaj bin Sajid, Deutschland

hier zu Teil 1

Donnerstag, 2. März, 00:20 Uhr

Jeder Tag ist so voller Eindrücke und interessanter Erfahrungen, dass es mir schwer fällt, mich abends im Bett an alles zu erinnern. Hatte zunächst eine unruhige Nacht mit wenig Schlaf. Vor dem Schlafengehen hatte ich lange, inspirierende Gespräche mit Dr. Mahmood geführt. 

Erst nach dem Fajr-Gebet kam ich in den Tiefschlaf und bin daher morgens auch etwas verspätet aufgewacht. Als ich gegen 10 Uhr in der Klinik ankam, war der Betrieb schon aufgenommen und ich stieg direkt mit ein. Hab mir auf mein Handy die Google-Translate-App runtergeladen und kann damit nun selbständig gute Gespräche mit den Patienten im Wartebereich führen, ihre Wartezeit mit etwas Unterhaltung verkürzen und von einigen von ihnen ihre Geschichte seit dem Beben erfahren. 

Heftige Geschichten, die man zu hören bekommt; wie die Menschen sich in letzter Sekunde gerettet haben, wie sie innerhalb von Sekunden alles verloren haben und wie sie nun mit der Situation klarkommen. Die allermeisten zeigen immens viel Geduld und Willensstärke, sind dankbar für ihr Überleben und vertrauen auf Gott für eine bessere Zukunft. Ein Deutschtürke erzählt mir, dass viele Menschen kurz vor der Haustür im Flur gestorben sind, weil sie zu langsam waren um rauszustürmen und das Haus vorher eingestürzt ist. In den engen Fluren vor der Haustür wurden viele unter den Wänden und Decken erdrückt, während andere, die in geräumigen Räumen im Haus geblieben und z.B. unter einen Tisch gekrochen sind, gerettet werden konnten. Das Schicksal scheint verrückt zu spielen!

Hier im Camp bilden alle Bewohner eine Art Schicksalsgemeinschaft. Unabhängig davon, wie unterschiedlich ihr Leben vormals aussah, sind sie nun alle in der gleichen perspektivlosen Situation und stehen bei null. Hierdurch ist eine gewisse Verbundenheit zwischen den Menschen zu spüren, die durch ihr Leid miteinander verbunden sind. 

Wieder versorgen wir über den ganzen Tag mehr als 80 Patienten. Einem Soldat wird am Kopf entlang eine 15 cm lange Wunde getackert. Bei vielen anderen werden die Verbände an den Verletzungsstellen gewechselt. Viele Kinder und ältere Menschen mit Erkältungen, Fieber und Hautkrankheiten; Es ist aber bisher keine schlimmere, ansteckende Infektionskrankheit zu erkennen, die sich ausbreiten würde. 

Wieder haben wir hohen Besuch im Camp – der türkische Verteidigungsminister kommt vorbei und macht einen Rundgang. Für unsere Arbeit interessiert er sich weniger. Bruder Faraz versucht, ihn vor seiner Abfahrt anzusprechen, kommt aber zu spät. Mit einem Vertreter aus seiner Delegation können wir aber sprechen. Er ist der Meinung, dass in 1 bis 1 ½ Jahren die Häuser wieder aufgebaut sind. Damit spricht er die optimistische, aber eher unrealistische Sprache der Regierung. 

Der Deutschtürke Erkan berichtet von einer Spendenlieferung (Kleidung, Hygieneartikel, Spielzeuge etc.) von 40 Tonnen, die von einem Frankfurter Verein heute in Hatay ankommen soll. Wir werden schauen, ob wir ihm bei der Verteilung helfen können. 

HF hat von Sixt-Autovermietung mehrere Mietautos kostenfrei erhalten. 

Ich laufe mit meiner Kindercrew (Mehmet, Aida, Pelim, Ezra, Mira) das Camp ab und besuche die Camp-Schule. Die Schule ist in drei sehr guten, klimatisierten Zelten untergebracht. UNICEF hat die Zelte bereitgestellt und der Schulbetrieb wird direkt vom Bildungsministerium gesteuert. Ich tausche mich mit den Lehrerinnen aus und sammele auch ihre Eindrücke aus ihrer täglichen Arbeit mit den Kindern. Alle Kinder werden im Wechselbetrieb beschult mit dem Ziel, dass sie möglichst nichts versäumen. 

In der gleichen Ecke des Caps wurde ein großer, schöner neuer Spielplatz eingerichtet. Auf einem weiteren Platz wurden kleine Fußballtore aufgestellt und ein kleines Feld aufgebaut. 

Abends kommt die große Crew aus Deutschland an. 13 Personen, von denen ich auch einige kenne und mit Freude empfange. Als jemand, der schon 4 Tage da ist, kann ich den Neuen einige Eindrücke schildern, ihre Bedenken nehmen und sie motivieren. Fühle mich schon wie ein alter Hase im Camp. Habe schließlich gerade 24 Stunden durchgehend hier verbracht. Wasim Ghaffar wird in unser Team mit einsteigen, alle anderen werden in der Großküche eingesetzt. Morgen früh werde ich mit ihm eine Einarbeitung machen und alles mit ihm besprechen. Hoffentlich kann ich dann auch mal raus aus dem Camp und bei den mobilen Einsätzen mitmachen.

07:35 Uhr

Gestern Abend haben wir das erste Mal unser traditionell-pakistanisches Essen – Korma und Naan – gegessen. Bisher habe ich mich vier Tage lang gefühlt nur von weißen Bohnen und Suppe ernährt! Die zwei Köche aus Hamburg haben das Essen für das Groß-Team zubereitet. Wir saßen alle zusammen im großen Zelt und hatten ein schönes Gemeinschaftserlebnis. Beim Essen waren auch unsere türkischen Freunde und Partner dabei. Ali, unser Übersetzer, lebt seit 35 Jahren in New York und ist nach dem Erdbeben zum Helfen zurück in seine Heimat gereist. Mit ihm sprechen wir über die Frage des Wiederaufbaus und die Hilfe Gottes dabei. Er drückt seine Enttäuschung über seine Mitbürger aus. Die ganze Stadt sei verriegelt, kein Laden habe auf, außer einem, die Trinkhalle, wo man alkoholische Getränke und Zigaretten kaufen kann. 

Immer wenn im Camp Verteilungsaktionen stattfinden, bilden sich lange Schlangen, die Leute stellen sich bei Sonne und Staub lange an, aber zum Fajr-Gebet kommt niemand in das Gebetszelt. Tatsächlich hat unsere HF-Crew die Gebetszelte für sich eingenommen, meist sind wir in den Gebeten unter uns. 

Nach dem Morgengebet unterhalte ich mich mit Herrn Munawar Abid, der für HF Deutschland die Verantwortung über den Bereich Desaster-Relief hat. Er berichtet über die Erwartungen und Anweisungen von Hudhur-e-Aqdas, unserem Kalifen. Es müssten Fahrradteams in jeder Region vorhanden sein, welche speziell Ahmadi-Familien für Hilfsangebote und Güter aufsuchen können, wenn Straßen blockiert sind. Diese Teams sollten die Regionen kennen und vorher gemappt haben, sodass Sie jeden erreichen können, wenn Kommunikationswege abgebrochen sind. Die Anweisungen gehen derart ins Detail, sodass in jeder Art von Katastrophe HF den Menschen beim Überleben helfen kann. In den nächsten Wochen sollen deutschlandweit Camps stattfinden, wo Ahmadis zu diesen Themen geschult werden.

Freitag, 3. März, 1:40 Uhr

Wieder ist ein ereignisreicher Tag zu Ende gegangen. Habe mit Herrn Wasim morgens die Klinik vorbereitet und mit dem Patientenmanagement begonnen. Die Anzahl der Patienten bleibt stabil hoch. Seit zwei Tagen gibt es auch eine weitere türkische Klinik im Camp, auch mit einer Kinderärztin sowie Kinderpsychologin. Wir schicken einige Patienten, auch Kinder, rüber in die türkische Klinik, wenn bei uns der Andrang zu hoch wird. Infektionskrankheiten, Verletzungen vom Beben, Erkältungen; alles Mögliche ist dabei. Wir decken alle Krankheitsbilder in der Erstversorgung ab, außer Zahnprobleme. Dafür gibt es eine mobile Zahnklinik im Camp, die ich heute besuchte und mit den Ärztinnen sprach.
Nachmittags kam wieder hoher Besuch, der Gesundheitsminister der Türkei. Ein beliebter Minister in der Türkei mit höheren Social-Media-Follower Zahlen als Präsident Erdogan. Er kam auch in unsere Klinik und tauschte sich mit uns aus. Zudem konnten wir mit ihm Gruppenfotos machen – eine schöne Wertschätzung für unsere Arbeit. Andererseits gab es die ganze Zeit die Sorge, dass wir vielleicht unsere Arbeit einstellen müssen würden, weil ein Beamter im Gesundheitsministerium ein Problem mit uns hat bzw. es allgemein von türkischer Seite nicht gern gesehen wird, dass man auf externe Hilfe angewiesen ist und somit Schwäche zeigt. 

So werden wir wohl unsere mobile Klinik hier im Camp abbauen und heute oder morgen in eine andere Zeltstadt gehen, die doppelt so groß ist und wo auch höherer Bedarf besteht. 

Meine 3 Kollegen, Dr. Mahmood, Dr. Qasid und Faraz werden heute Abend abreisen. Das wird ein schwieriger Abschied. 5 Tage haben wir rund um die Uhr gemeinsam verbracht und gemeinsam heftige Erfahrungen gemacht. Samstag oder Sonntag kommen neue Ärzte und Helfer, u.a. auch Wajahat aus Hannover, den ich seit vielen Jahren gut kenne und schätze. Auch erwarten wir in den nächsten Tagen einige Presseleute, ARD und Deutsche Welle haben sich angekündigt und wollen über unsere Arbeit berichten. 

Unser Plan, heute Abend draußen Kebab und Künefe zu essen, hat der Gouverneur durchkreuzt. Er ließ uns abends zu lange warten, bis wir mit ihm über unseren weiteren Einsatz sprechen konnten. Das Abschiedsessen werden wir hoffentlich morgen vor der Abreise der Dreien nachholen. Die lange Wartezeit abends haben wir aber mit Volleyballspielen mit den Kindern, guten Gesprächen und viel Lachen verbracht. Außerdem haben wir erst heute entdeckt, dass es einen eigenen Essenbereich für Soldaten, Polizisten und andere Camp-Mitarbeiter gibt. Das Essen ist das gleiche, aber die Sitzmöglichkeiten in diesem Essenszelt sind etwas bequemer. 

Mit einigen Soldaten im Camp haben wir uns auch angefreundet. Einer von ihnen wird bald nach Frankfurt kommen, weil er dort seine Verlobte heiraten will. Er hat uns sein Soldatenabzeichen geschenkt! Ansonsten haben wir auch heute einen mobilen Einsatz gehabt und sind dabei mit einem Arzt in die Dörfer rausgefahren.

Samstag, 4. März, 18:10 Uhr

Freitagfrüh wachte ich zu Fajr auf und der erste Gedanke, der mir kam, war ‘Du MUSST duschen’. Es fühlte sich an, als ob dieser Gedanke tief in meinem Kopf eingepflanzt wurde und mich eine unsichtbare Kraft mit aller Härte zu den Duschen zerrte. Bisher haben die meisten aus der HF-Crew die Duschen gemieden, um sich selbst von Infektionen zu schützen. Nach 4 Tagen aber war das Bedürfnis so groß, dass ich sofort von der Matratze aufsprang, in Windeseile meine Sachen packte und zur Dusche ging. Augenscheinlich sah die Dusche recht sauber aus und sogar das Wasser war warm. Das nutzte ich voll aus, nahm mir viel Zeit, Duschgel und Shampoo. Fühlte mich danach so frisch, wie neugeboren. An diesem Tag war die Abreise von Dr. Mahmood, Dr. Qasid und Faraz geplant. Dementsprechend war ich etwas traurig über das Auseinandergehen meines Teams. Unsere gemeinsame Zeit in einer außergewöhnlichen Umgebung mit großen Herausforderungen hat uns eng zusammengeschweißt. Ich bin sehr dankbar, dass ich mit solch wundervollen Menschen Zeit verbringen durfte und einiges von ihnen lernen konnte. Wir haben auch viel miteinander gelacht und Spaß gehabt. 

Völlig unerwartet wurde mir aber vormittags mitgeteilt, dass auch ich an diesem Tag das Camp verlassen sollte und nach Osmaniye in das andere Camp verlegt wurde. Dort sollte ich sogar die Campleitung von Major Zubair Khalil übernehmen, der zurück nach Deutschland reisen würde. 

Eine Nachricht, die ich mit großer Freude aber auch Demut entgegennahm. Jetzt hieß es also Abschied nehmen von diesem Camp und seinen Bewohnern. Ich schrieb einen Abschiedsbrief an vier Familien, mit denen wir uns eng befreundet hatten. Ich legte in den Umschlägen auch das Geld, welches ich als Sadqa (Spende) mitgebracht hatte, bei. Auch Faraz und die beiden Ärzte legten einen Anteil dazu. Wir besuchten die vier Familien in ihren Zelten und bekamen viel Dank und Liebe zurück. Sie luden uns sogar ein, zu einem Tee in ihre Zelte zu kommen. 

Gegen 17 Uhr fuhr ich schließlich mit zwei HF-Kollegen (Amir und Amir) los, die anderen Kollegen sollten später nach Osmaniye nachkommen und dort eine Nacht verbringen, bevor sie auch am nächsten Tag aus Adana ihren Rückflug haben würden. 

Auf dem Weg nach Osmaniye hielten wir in Belen in einer Hochzeitshalle, welche gegenüber einem großen Camp liegt und wo HF mit einem großen Team eine Großküche betreibt und Essen für alle Camp-Bewohner zubereitet und ausgibt.

In Osmaniye traf ich Jahangir und Luqman wieder. Es erfolgte eine Übergabe von Herrn Major Zubair und danach fuhren wir in die Stadt.

Sonntag, 5. März, 13 Uhr

Bin jetzt seit zwei Tagen in Osmaniye und trage hier die Gesamtverantwortung der HF-Arbeit. Merke dabei auch, dass mir diese Art der Arbeit, ein Team zu führen, Personal stärkenorientiert einzusetzen, Team Building zu fördern, zu organisieren und zu gestalten über die letzte Monate in meinem Job stark gefehlt hat und dass ich mich wohlfühle in dieser Rolle, in der man Verantwortung übernimmt und entscheidungsfreudig die Projekte voranbringt. 

Freitagabend haben wir uns also doch noch mit den drei Antakya Kollegen –Faraz, Dr. Mahmood und Dr. Qasid in Osmaniye zu einem Abschiedsessen getroffen. Der Abflug der Dreien war für 8 Uhr terminiert, sodass sie um 4:30 Uhr von Osmaniye losfahren musste. Es lohnte sich also nicht mehr wirklich zu schlafen, sodass wir die ganze Nacht mit Reflexionsgesprächen, Geschichten und Gebeten verbrachten und insbesondere auch gemeinsam das Tahajjud-Gebet beteten.

Eine schöne Möglichkeit, das bisher erlebte ein wenig zu verarbeiten. Es ist wirklich hart gewesen, das ganze Leid und die Zerstörung zu sehen, wenn man selbst sein ganzes Leben bisher in Frieden und Wohlstand verbracht hat. Wenn man durch die kaputten Städte fährt, dabei die traurige, melancholische türkische Musik hört, dann macht es einen auch richtig fertig. Der Gedanke, dass man selbst in einigen Tagen wieder zu Hause sein wird und das ganze Leid hinter sich lässt, die Menschen hier aber in dieser extrem harten Lebenslage noch über Jahre ausharren müssen, erzeugt eine tiefe Traurigkeit, welche man nur in Gebeten verarbeiten kann. 

Montag, 6. März, 1:30 Uhr

An meinem ersten Tag als Campleiter haben wir nur Jahangir, den Medizinstudent, als ‘Arzt’ da gehabt. Er hat bereits die letzten acht Tage die Klinik zum Teil alleine geschmissen und eine sehr gute Arbeit gemacht. Ich hatte ihn noch als kleinen Jungen aus Neu Isenburg in Erinnerung und freute mich sehr zu sehen, wie verantwortungsbewusst und professionell er hier arbeitete und mit seiner liebevollen Art die Herzen der Camp Bewohner eingenommen hatte. Ein Thema hat Jahangir ziemlich mitgenommen, worüber wir uns in der schlaflosen Nacht von Freitag auf Samstag lange unterhielten; die Diskriminierung der Syrier im Camp aber auch im Alltagsleben. Die Syrer bilden im Camp mit 80% die Mehrheit. Sie kommen aus dem Krieg und haben in der Türkei zwar eine Zuflucht gefunden, müssen aber schon immer hier auch Ausgrenzung, Diskriminierung und Perspektivlosigkeit erfahren – und sind dann wie alle anderen auch Opfer des massiven Erdbebens geworden. Unsere zwei Übersetzer und Crewmitglieder Rafat und Mahir sind Syrer und schildern uns viele solcher negativer Erfahrungen. Sie sagen, dass Syrier in der Türkei unter keinen Umständen eine Chance haben, sich voll zu entfalten und sich so zu entwickeln wie die Türken selbst. Laut Jahangir könne man vor allem die syrischen Kinder hier im Camp als eine ‘verlorene Generation’ sehen. Wir diskutierten also über die Frage, wie man als Außenstehender mit dieser Sache umgehen solle; die Missstände gegenüber unseren türkischen Partner aussprechen oder sich aus den Konflikten lieber raushalten. Im Ergebnis waren wir schon der Meinung, dass man unter Einhaltung von Diplomatie und Weisheit seine Stimme erheben sollte, wenn man selbst Zeuge einer Diskriminierung wird. 

Tag 1 begann mit einer Grundreinigung aller drei HF-Zelte und der Medikamenten-Sortierung, sowie mit Absprachen mit dem Campleiter Ali. Mittags öffneten wir dann die Klinik und haben bis Abend um die 50 Patienten versorgt. Außerdem packten wir über 200 Hygienepakete zusammen, die wir in den nächsten Tagen im Camp verteilen würden. Währenddessen erfolgte auch eine Umsiedlung der Camp-Bewohner. Am 12. März soll das Camp geschlossen werden, weil die Schule dann wieder beginnt. Wir haben also nur noch wenige Tage, den Menschen hier zu helfen und ich entscheide mich, den Weg Dr. Mahmoods zu gehen. Er hat mehrmals gesagt, dass man während so eines Einsatzes weder mit seinen Kräften noch mit seinen Hilfsgütern geizen und nichts lagern sollte. Man wisse nie, ob im nächsten Moment der Einsatz abrupt beendet sein kann, weil z.B. die Regierung anweist, die Hilfeleistungen einzustellen. Daher schnürten wir also die Hygienepakete und auch Tüten mit Kinder-Malstiften, -heften, etc., um sie in den Zelten zu verteilen. 

Auch nehme ich mir vor, Ausschau nach spezifischem medizinischen Bedarf zu halten und gezielte Hilfestellungen zu organisieren. So z.B. für die Mutter des 5 jährigen Mädchens, welches von dieser die ganze Zeit getragen wird, weil es einen verformten Fuß hat und orthopädische Schuhe benötigt. Diese Art der Behandlung blieb ihr als Syrerin aber bisher in den türkischen Kliniken verwehrt. 

Abends fuhren wir in die Stadt und sahen das große Ausmaß der Zerstörung. Eine bauliche Lücke in einer langen Reihe von Hochhäusern, also eine Fläche, auf der vormals ein 15-stöckiges Haus stand, welches wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel und 200 Menschen unter sich begrub. Oder das halb kaputte Hochhaus, wo man in die Wohnungen hineinspähen kann und dort die Möbel und die Zimmer erkennt. Häuser, die jederzeit zusammenbrechen können, von denen wir in der Stille der Nacht auch Knacksen und das Runterfallen von Steinen und Staub hören. Viele dieser Häuser sind gerade mal 2 Jahre alt und wurden im Zuge eine großen Baubooms aber unter Nichtberücksichtigung baulicher Standards gebaut wurden. Der Anblick dieser kaputten Häuser und der Berge an Bauschutt hat surreale Züge. Man will gar nicht wahrhaben, dass es sich um die Realität handelt, und hat immer wieder das Gefühl, in einem Hollywood Studio vor einer Filmkulisse zu stehen.

08:45 Uhr

Habe nach Fajr gerade komische Träume gehabt, dass ich zurück in Deutschland bin und dort die Dinge nicht gut laufen und ich gedanklich nicht ankomme, schlechte Gefühle habe usw. Tatsächlich schwanken die Gedanken hin und her zwischen den beiden Polen: „Schön, dass ich hier sein und helfen darf“ und „In wenigen Tagen bin ich weg und lasse die Menschen alleine.“ Manche von Ihnen werden vermutlich nie ein besseres Leben führen können. Das Camp bildet ihr Universum. Während wir in absoluter Freiheit leben, jederzeit alles tun können, überall hingehen, sind diese Menschen jeglichen Gestaltungsspielraums für ihr eigenes Leben beraubt. Sie werden wie ein Stück Gepäck von einem Camp in das nächste verfrachtet.
Dr. Raza hatte davor gewarnt, zu viel zu grübeln, sonst könne man nicht funktionieren. Er meinte, dass auch seine Arbeit als erstversorgender Arzt am Ende nur ein kleiner Tropfen auf den heißen Stein sei. Mit der Behandlung und den Medikamenten lindert man für einen gewissen Zeitraum das Leid der Menschen; an ihrer schlechten Lebenssituation kann man damit aber nichts ändern. Wichtig daher ist, dass HF neben dem Programmbereich Desaster Relief andere Programme hat, die auf eine nachhaltige Verbesserung der Lebensumstände abzielen, so z.B. Water for Life und Global Villages. 

Erfahrene HF-Kollegen berichten, dass man das Leben nach so einem Einsatz anders wahrnimmt, mit mehr Demut, mehr Dankbarkeit und auch mehr Gelassenheit und Kraft zum Meistern der Herausforderungen im Leben.

Das Leben dort unterscheidet sich so sehr, als ob man über eine andere Dimension, einen anderen Planeten sprechen würde. Und doch leben wir doch alle auf der gleichen Erde und gehören der gleichen Menschheitsfamilie an.

18:00 Uhr

So langsam spüre ich die Müdigkeit und Erschöpfung der Arbeit der letzten Tage. Ich habe noch 2 ½ Tage vor mir, die ich, insh Allah, durchhalten werde. Der gestrige Tag verlief ansonsten ruhig und routiniert. Ich lernte weitere Leute im Camp kennen und schloss neue Freundschaften, so z.B. mit den zwei Schülerinnen von der religiösen Mädchenschule, darunter auch die 18 jährige Zehra, die ein großes Fußballtalent mitbringt. Wir erleben hier die Menschen, auch die Jugendlichen, zum Teil mit auffälligem Verhalten in Extremen und Stimmungsschwankungen und fragen uns, ob dies auch eine Folge der traumatischen Erfahrungen ist. Der Vater, der wegen 5 Minuten Wartezeit ausflippt und auf Dr. Raza losgeht und ihn schlagen will. Die Jugendlichen, die mit und rumflachsen und aus dem Lachen gar nicht rauskommen.  Am Ende bleibt immer das mulmige Gefühl, dass viele dieser Menschen auf lange Dauer hinweg aus dieser misslichen Lage nicht rauskommen werden und man selbst ihnen nicht wirklich raushelfen kann.

Auch der Anblick der Menschen, wenn sie ständig in Schlangen stehen, um verschiedene Güter anzunehmen (Essen, Kleidung, Hygieneartikel), ist erdrückend. Wie entwürdigend muss es sein, wenn man monate-, ja jahrelang immer nur in diesen Schlangen stehen muss und die Hand zum Nehmen ausstreckt. Der Familienvater, der mich direkt anspricht, eine längere nette Unterhaltung mit mir führt; und am Ende auf seine Füße zeigt, die in viel zu engen Schuhen stecken und mich nach Schuhen fragt. Das kleine Mädchen, das mich mehrmals am Tag fragt, ob ich ihr noch einen Fußball für ihren kleinen Bruder geben kann. 

Instinktiv habe ich zu einem Zeitpunkt beim Verteilen von Schokolade die Hand eines Kindes nach oben und meine nach unten gelegt und somit versucht, ihm aus einer nehmenden Haltung in eine greifende, sich weniger bedürftig anfühlenden Haltung zu führen. Das kam unüberlegt und irgendwie aus dem Inneren, das voll ist mit Schmerz für seine Entwürdigung. 

Es kommen fast jeden Tag Nachbeben. Tiere sind sensibler als Menschen und spüren die Beben Stunden vorher. Das plötzliche Bellen der Hunde und Krähen der Hühner mitten in der Nacht erzeugt also nicht nur eine unheimliche Stimmung, sondern dient tatsächlich als Vorwarnung. Alle Nachbeben, die ich erlebte, waren von geringer Intensität, sodass ich selbst diese nicht wirklich spürte. Andererseits gab es einige Momente, in denen ich dachte, dass es gerade bebt, dies aber nicht der Fall war. 

Im Meeting abends wurde besprochen, dass wir aufgrund der schlechten Wettervorhersagen – es wurden starke Sturmböen vorausgesagt – entsprechende Vorkehrungen treffen sollten. Ich hatte bereits in Antakya und auch in Osmaniye erlebt, dass die HF-Zelte zwar sehr stabil und von hoher Qualität waren, aufgrund ihrer Größe aber bei starkem Wind ins Wanken gerieten. So bauten wir abends alles um, leerten unsere Zelte und zogen mit den wichtigsten Sachen der Klinik in einen Raum in das Schulgebäude.
Frühmorgens bemerkten wir, dass unsere Zelte nachts dem Wind nicht standgehalten hatten. Beide Zelte lagen auf dem Boden und wurden nur noch von den am Vorabend angebrachten Gewichten vom Wegfliegen bewahrt. In einer Notaktion bauten wir also schnell beide großen Zelte ab und trugen unser gesamtes Equipment in den Raum, wo wir eine neue Klinik einrichteten. Sowohl am Vorabend als auch morgens bekamen wir Hilfe von vielen Kindern und Jugendlichen, die ungefragt hinzukamen und zupackten. Ich hatte oft das Gefühl, dass die Menschen – jung und alt – dankbar waren, irgendeine sinnvolle Arbeit zu verrichten, um im öden Camp-Leben kleine Momente der Wirksamkeit zu erleben.

Fortsetzung folgt…  


Über den Autor:
Wahaj bin Sajid, geboren und aufgewachsen in Frankfurt am Main, hat ein Studium der Rechtswissenschaften absolviert und in verschiedenen Bereichen wie der öffentlichen Verwaltung, dem Bildungsmanagement, der Forschung und Beratung gearbeitet. Zudem engagiert er sich ehrenamtlich in der Abteilung Externe Angelegenheiten der Ahmadiyya Muslim Jamaat und ist für den Dialog und Kooperationen mit Bundespolitik und Bundesministerien zuständig sowie als Koordinator für alle Themen rund um die Deutsche Islamkonferenz tätig.

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