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Reisetagebuch: Humanity-First-Einsatz im Erdbebengebiet Türkei (Teil 1/3)

Journalisten haben uns viel über das schwere Erbeben berichtet. Aber was heißt es, dort auch Hand anzulegen?

von Wahaj bin Sajid, Deutschland

Im Namen Allahs des Gnädigen, des Barmherzigen

Sonntag, 26. Februar, 12:10 Uhr – Frankfurt Flughafen

Vor fast genau 13 Jahren habe ich eine besondere Reise unternommen, die für mich damals einen Wendepunkt im Leben darstellte; die Umrah im Jahr 2010, kurz nach Studienende, vor dem Berufseinstieg und Eheleben. Für diese Reise habe ich damals ein Reisetagebuch geschrieben, um meine Erlebnisse für mich und für andere festzuhalten.

Heute, 13 Jahre später, trete ich erneut eine Reise an, die vielleicht einen ähnlichen ‘Impact’ auf meinen weiteren Lebensweg haben könnte, sodass ich mir wieder ein Buch eingepackt habe und drauf losschreibe:

Ich sitze am Flughafen am Gate und warte mit Daud Ata und Luqman Waraich auf den Abflug Richtung Adana/Türkei. Von Adana wollen wir heute Abend ein Auto anmieten und ins Erdbebengebiet Hatay fahren.

Vor drei Wochen hat dort die Erde gebebt. Es war eines der schlimmsten Beben in der Geschichte. Man spricht von über 50.000 Toten. Die Stadt Antakya hat es sehr schlimm erwischt. Es herrschen dort laut eines UN-Vertreters „apokalyptische Zustände“.  Jedes zweite Haus ist komplett eingestürzt und alle anderen sind beschädigt.

15:30 Uhr – im Flug  

Das ganze Prozedere am Flughafen verlief reibungslos und schnell, keine Schlangen, keine Warterei. Dafür saßen wir aber über eine Stunde im Flieger, bevor dieser endlich abhob. Nun also über den Wolken, neben Daud und Luqman. Mit Daud habe ich schon sehr schöne Gespräche geführt und inspirierende Impulse aus seinen Erzählungen gesammelt. Eine gute Reisegesellschaft habe ich bekommen, Allhamdolillah.

Die Umstände vor 13 Jahren zu meiner Umrah-Reise und heute sind in gewisser Weise vergleichbar, in vielerlei Hinsicht aber auch sehr unterschiedlich. Die große Parallele besteht in meiner damaligen wie heutigen ungewissen (beruflichen) Zukunft stand. Ansonsten aber kann ich auf eine Zeit zwischen 2010 und heute zurückblicken, die voller Segnungen Gottes ist. Ich habe heute eine wundervolle Frau und 3 Söhne, die meinen Lebensinhalt darstellen. Sie geben mir unglaublich viel Kraft und stehen immer hinter mir. Wenn ich meine Söhne beobachte, dann ist es so, als ob ich mich selbst in 3 Spiegeln sehen würde. Saad ist jetzt in einem Alter, das mich sehr stark an meine eigene Kindheit und Jugend erinnert. Ich habe außerdem die Ehre, mit meinen Eltern zusammenzuleben und kann auch von Ihnen tagtäglich Gebete, Liebe und Zuneigung erfahren. In den letzten 13 Jahren konnte ich, Alhamdulillah, eine berufliche Laufbahn beschreiten, die stets aufwärts ging. Schließlich durfte ich viele außerordentliche Erfahrungen in der Gemeinde-Arbeit machen, viele schöne Momente mit dem Kalifen der Zeit und in der Öffentlichkeitsarbeit erleben. 

Nun bin ich sehr gespannt und bete stark dafür, dass auch nach dieser Reise Allah meinen Lebensweg und den meiner Kinder in seinem Sinne gestalten möge. Amin.

Ich werde mit Daud also nach Antakya fahren und dort in den nächsten 12 Tagen alle möglichen Arbeiten übernehmen. Unsere Hilfsorganisation, Humanity First, ist dort in einer großen Zeltstadt mit mehr als 400 Zelten und über 2000 Bewohnern aktiv.  Patientenmanagement in der mobilen Klinik, Einkauf, Lagerverwaltung, Logistik, Bedarfserhebungen und weitere Arbeiten, die anfallen, soll ich durchführen. Hands-On Mentalität ist gefragt.

Habe in den letzten Tagen mit mehreren HF(Humanity First)-erfahrenen Brüdern telefoniert; auch solchen, die selbst gerade aus Antakya zurückgekommen sind. Ihre Berichte haben in mir ein unwohles Gefühl ausgelöst. Bin ich dieser Herausforderung gewachsen? Werde ich mit den schwierigen Umständen (z.B. auch bzgl. Hygiene) klarkommen? Habe in den letzten Tagen jedes Mal, wenn ich mich im Bad gewaschen habe, das warme Wasser intensiv gespürt und genossen und Dankbarkeit empfunden. Die nächsten Tage werden gewiss nicht einfach werden. Luqman hat mir von seinem Einsatz an der Polnisch-Ukrainischen Grenze erzählt und wie schwierig dieser war. 

Aber die letzten Stunden vor dem Reisebeginn sind die Sorgen etwas gewichen. Das gemeinsame Gebet am Flughafen und die Gespräche haben meine Motivation und Entschlossenheit gestärkt. 

Die Mail von Fozia und den Kids haben mir den Rest gegeben. Sie schreiben, dass Sie beten, dass ich durch meine Arbeit ein Lächeln in die Gesichter der leidtragenden Menschen bringen möge, denn das könne ich ganz gut. Mögen diese Gebete in Erfüllung gehen. Amin.

Montag, 27. Februar, 00:10 Uhr – Osmaniye

Gegen 21 Uhr sind wir in Adana angekommen, haben wie geplant den Mietwagen abgeholt und sind in die Stadt für das Gebet und Essen gefahren. Die Stadt Adana scheint weitestgehend verschont geblieben zu sein, obwohl das Beben auch hier zu spüren war. Ich sehe nur an wenigen Gebäuden ein paar Risse. Ansonsten herrscht hier normales Stadtleben. Die Stadt erinnert mich sehr an pakistanische Großstädte wie Lahore. Nach dem Essen fahren wir weiter nach Osmaniye, haben eine angenehme Fahrt und interessante Gespräche. Auf der Fahrt bekomme ich viele Nachrichten mit guten Wünschen für den Einsatz. Darunter auch eine Nachricht von Herrn Arno Tappe, ein guter alter Bekannter aus der Bundeswehr. Ich telefoniere mit ihm und erfahre, dass er morgen mit einer Bundeswehr-Delegation nach Adana für eine Erkundungstour kommen wird, um den Bundeswehr-Einsatz vor Ort vorzubereiten. Wir tauschen Informationen aus, er möchte von unseren bisherigen Erfahrungen wissen. Wir laden ihn ein, uns im Camp in Antakya zu besuchen, evtl. könnte sich also eine HF-BW Kooperation ergeben:)

Im Osmaniye Camp angekommen, treffe ich ein bekanntes Gesicht, Jahangir Subi, Mobi. Coller Junge, den ich kenne, seit er ein kleiner Junge war. Mittlerweile ist er Medizinstudent und seit zwei Tagen im Camp tätig. Wir übernachten hier, das Camp ist auf einem Schulgelände. Das HF-Team ist im Schulgebäude untergebracht. Bequeme Betten, alles sehr angenehm.

In diesem Camp sind überwiegend syrische Geflüchtete untergebracht. Der Anteil der Syrier in der Stadt ist sehr hoch. Andere Camps sehen wohl besser aus als dieses. Morgen geht es, Inshallah, weiter nach Antakya.

16:20 Uhr – Camp Defne/Antakya

Heute Morgen nach langer Zeit wieder mal mit dem Adhan (Gebetsruf) aufgewacht. Mit Major Zubair Khalil und den anderen Brüdern gebetet. Nochmals eine Stunde geschlafen, dann mit kaltem Wasser geduscht. Im Camp herrscht eine Atmosphäre, wie man sie von UK Jalsa (Ahmadiiyya Jamaat Jahresversammlung)  kennt. Buntes Treiben von Jung und Alt, Kinder spielen Fußball auf selbst gebastelte Tore. Gegen 10 Uhr fahren wir Richtung Antakya, mit uns der Sohn des Campleiters Yigit. Viele türkische Helfer, die sich uns angeschlossen haben und beim Dolmetschen und  anderen Aufgaben unterstützen. 

22:15 Uhr

Auf meine Frage an Yigit, wie sich das Beben angefühlt hat, sagt er, wie wenn jemand sein Haus in die Hand nehmen und kräftig durchschütteln würde, hoch, runter, rechts, links. Er sei nach dem ersten Beben zu seiner Mutter gerannt und beide dann auf die Straße. Draußen war es dunkel, kalt und es habe geregnet. 

Auf der 2 ½ stündigen Autofahrt sehen wir 2 Stunden lang keine Spuren des Bebens. Stattdessen schöne Landschaften, Berge und grüne Weiden, kleinere Städte auf den Bergen und Moschee-Minarette. Erst 30 Minuten vor Antakya sieht man die ersten beschädigten Häuser. Und dann 20 Minuten lang entlang der Straße nur noch komplett zerstörte Gebäude. Eine lange Spur der Verwüstung. Ein grausamer Anblick. Als ob es sich um Lego-Häuser handelt, auf die jemand eingetreten ist. Vereinzelt sieht man Menschen, die einsam vor einem zerstörten Haus sitzen, als ob sie noch auf die Bergung ihrer Angehörigen warten. Vor manchen Häusern sind Zelte aufgeschlagen. 

Dann erreichen wir das Camp. Das große, rote HF Zelt steht gleich am Eingang. Auch hier sind auf einem großen freien Platz in 400 Zelten über 2000 Menschen untergebracht. Es ist ziemlich laut, staubig und viel Bewegung. Die türkischen Organisationen (AFAD, Katastrophenhilfe, Armee, Polizei, Ambulanzen, Roter Halbmond) haben hier aber gute Arbeit geleistet. Das bestätigen auch mehrere HF-Kollegen, die schon einige Katastropheneinsätze in anderen Ländern erlebt haben. Hier werde ich also die nächsten 11 Tage verbringen. Die ersten Stunden vergehen mit der Übergabe durch Waqas, den bisherigen Campleiter, der dann abreist und Daud Ata die Leitung übergibt. Er gibt seine Lagebild-Einschätzung ab, zeigt uns das Camp und die wichtigsten Stationen und geht mit uns zu verschiedenen Akteuren im Camp zum Kennenlernen. Es prasseln in kurzer Zeit viele Eindrücke auf mich ein. 

Ein Arzt aus UK, Qasid, ist bereits am Arbeiten, ein weiterer kommt mittags  hinzu. Faraz, ein Rettungssanitäter aus Deutschland, ist auch hier. Ich übernehme meine Aufgaben im Patientenmanagement. Über den gesamten Tag kommen 90 Patienten. Atemwegserkrankungen, Erkältungen, Fieber, Hautkrankheiten aber auch Verletzungen vom Beben, die nachbehandelt werden. 

Ein junges Ehepaar, das mit seiner 1-jährigen Tochter 3 Tage lang unter dem Schutt ihres Hauses lag und dann gerettet wurde. Der 4-jährige Mehmet, der stark hustet und eine laufende Nase hat, aber mir trotzdem ein Lächeln schenkt (die Worte meiner Kids im Brief wurden bereits erfüllt).

Viele kommen außerhalb der Klinik auf einen zu und fragen, wie man heißt, woher man komme usw. HF genießt hier hohe Wertschätzung, man hat durch die gute Arbeit schon großes Vertrauen der Menschen gewonnen und ist mit allen Akteuren gut vernetzt. Die Ärzte arbeiten mit einer so großen Zuwendung, die ich selten gesehen habe; sie nehmen sich Zeit und gehen auf einer emotionalen und menschlichen Ebene auf die Patienten ein.

So vergeht der Tag wie im Flug. Zwischendurch kommt Dr. Athar Zubair (Chairman von HF Deutschland) vorbei und fährt mit Daud Ata raus, um eine Großküche zu erkunden, die von HF demnächst aufgenommen werden könnte. 

Herr Tappe, mein Bundeswehr-Freund, ruft an und möchte vorbeikommen. Morgen sollen WHO-Vertreter ins Camp kommen, es wird auch Presse erwartet. Auch der Gesundheitsminister könnte in den nächsten Tagen vorbeikommen. Zugleich planen wir, mit Ärzten in mobilen Einheiten rauszufahren und hilfsbedürftige Menschen in entlegenen Dörfern aufzusuchen. Uns werden kleinere Städte genannt, worin etwa 5000 Menschen leben, die keine medizinische Hilfe bekommen. 

Ich habe lange nicht mehr in einem Zelt geschlafen. Glücklicherweise sind die Temperaturen nicht so tief, nachts hat es zwischen 7 und 10 Grad. 

Wir haben abends die Klinik umgeräumt und die Medikamente sortiert. Freue mich auf den morgigen Tag, an dem ich, Inshallah, die Arbeit strukturierter angehen kann.

Mittwoch, 1. März, 01:25 Uhr  

Der zweite Tag im Camp geht zu Ende. Ein langer Tag mit vielen Eindrücken und Erfahrungen. Der Vormittag verging mit einer gründlichen Reinigung der Klinik und Neustrukturierung des Wartebereichs. Außerdem waren wir stark mit der Umsetzung von WHO–Standards hinsichtlich Hygiene und Dokumentation beschäftigt. Es wurde nämlich eine Visite von WHO-Inspektoren angekündigt, auf die wir uns hektisch vorbereiteten. Zwei weitere HF-Verantwortliche aus UK kamen mit einem dicken HF-Jeep ins Camp, um eine Vorprüfung vorzunehmen und uns auf viele Dinge hinzuweisen. Grundsätzlich gelten auch in mobilen Kliniken im Katastrophengebiet die gleichen Standards wie in einer laufenden Klinik im Normalfall. Ich kannte diese Art der Vorbereitungsarbeit gut aus meiner Zeit im Bildungswerk, wo wir auch oft Überprüfungen von übergeordneten Behörden hatten. 

Gegen 11:30 Uhr kommen dann mehrere UN-Autos in das Camp reingefahren. Es ist nicht irgendeine WHO Gruppe, sondern der Generaldirektor der WHO höchstpersönlich. Er macht eine Begehung des Camps und läuft an unserer Klinik einfach vorbei. Anscheinend reicht es ihm aus, was er von außen von uns sehen kann. Gleichzeitig besucht uns die Bundeswehr-Delegation, darunter natürlich auch Herr Tappe. Er hat gedacht, dass er mich hier treffen würde. Es fand ein langer Erfahrungsaustausch statt und man erörterte die Schnittmengen der Arbeiten. Die Bundeswehr wird eine eigene Klinik in der

Region aufbauen und könnte uns evtl. Feldbetten zur Verfügung stellen. Inshallah könnte es später auch weitere Kooperationen geben.

Einer der Ärzte fährt nachmittags in eine abgelegene Stadt und versorgt dort 18 Patienten. Im Camp haben wir über den Tag hinweg 85 Patienten. 

Glücklicherweise gibt es im Camp eine gute WLAN-Verbindung, sodass ich den Kontakt zu meiner Familie halten kann.

Unglaublich interessante und inspirierende Menschen, die hier im HF Team arbeiten; der junge Ahmadi, Saad aus Istanbul, der vor einigen Jahren aus Lahore in die Türkei kam, der Englischlehrer Arif, der amerikanische Türke aus New York, Ali, die Familienärztin Gülsüm. Die Ahmadi-Ärzte Dr. Mahmood und Dr. Qasid, von denen ich so viel über den Glauben und die Verbindung zu Gott lerne. 

Mittlerweile erkennen mich schon einige Camp-Bewohner und rufen mich beim Namen. Kinder kommen auf mich zu und wollen mit mir Volleyball spielen. Welche Zukunft haben diese Kinder? Wie lange werden sie hier noch ausharren müssen? Wann werden sie wieder ein normales Leben führen können und ihre Kindheit genießen können, ihren Lebensweg selbst gestalten können?

Morgen wird ein 13-köpfiges Team aus Köchen und Helfern aus Deutschland erwartet. Sie sollen eine Großküche aufnehmen, um dort täglich mehr als 2000 Menschen mit Mahlzeiten zu versorgen. Zwei von ihnen sind heute schon angekommen.

Es ist gerade mal mein dritter Tag im Camp, ich fühle mich aber hier schon wie zu Hause.

weiter zu Teil 2


Über den Autor:
Wahaj bin Sajid, geboren und aufgewachsen in Frankfurt am Main, hat ein Studium der Rechtswissenschaften absolviert und in verschiedenen Bereichen wie der öffentlichen Verwaltung, dem Bildungsmanagement, der Forschung und Beratung gearbeitet. Zudem engagiert er sich ehrenamtlich in der Abteilung Externe Angelegenheiten der Ahmadiyya Muslim Jamaat und ist für den Dialog und Kooperationen mit Bundespolitik und Bundesministerien zuständig sowie als Koordinator für alle Themen rund um die Deutsche Islamkonferenz tätig.

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