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Wie kann jemand Kinder schlagen?

»Der Beste unter euch ist derjenige, der seine Familie am besten behandelt«. Dieses unter Muslimen wohlbekannte Zitat Muhammads (saw), des Heiligen Propheten des Islam, findet unter den Menschen des Westens eher weniger Beachtung. Eine Kulturanalyse.

von Tanzeela Khalid

Werner Pfennig/Pexels

Aktuell müssen Muslime – und ihre ganze Religion gleich mit – für erstaunlich vieles herhalten. Wieso heutzutage oft ausgerechnet sie mit gesellschaftlichen Missständen assoziiert werden, mag zwar Gründe haben. Deshalb ist es aber noch lange nicht gerechtfertigt. Wieso aber kommt es also zu diesem Eindruck?

Wie bilden wir uns unser Urteil?

Was vielen schwer fällt, ist, das Verhalten von Muslimen und die islamische Lehre auseinanderzuhalten. Die Erfahrungen, die mit einzelnen Muslimen gemacht werden, prägen automatisch das Gesamtbild über den Islam. Medien wirken dabei nachweislich als Verstärker, indem sie derart überproportional negativ Bericht erstatten, sodass für den unreflektierten Konsumenten zwangsläufig ein bedrohlicher Eindruck entsteht.

Wenn es um bestimmte Themen rund um den Islam geht, wie die Rolle der Frau oder den Umgang mit Kindern, neigen viele Menschen außerdem dazu, ihr Islambild anhand einer beispielsweise arabischen oder afghanischen Familie zu definieren. Viele Verhaltensmuster und -weisen sind jedoch in vielen Bereichen oft stärker kulturell als religiös geprägt. Zudem sieht man aktuell nicht nur im christlichen Abendland, sondern auch in sogenannten islamischen Ländern, dass die Menschen sich dort von der ursprünglichen Lehre der Religion weit entfernt haben und ihr Verhalten in vielen Fällen sogar im Widerspruch dazu steht.

Weiters wurde interessanterweise festgestellt, dass ein arabischer Muslim und ein arabischer Christ – oder auch Atheist – sich in ihren Verhaltensweisen stark ähneln, da sie den gleichen kulturellen Hintergrund aufweisen. Auch Inder, ob Muslime oder Christen, würden sich in vielen Dimensionen ähnlich verhalten. Das Verhalten eines einzelnen Muslims pauschal mit der Lehre des Islam in Verbindung zu bringen, wäre folglich ein Schulterschluss. Derlei Einschätzungen werden auch dadurch nicht treffender, indem man sie durch unreflektiert aufgeschnappte Glaubenssätze untermauert.

Aus solchen Gründen ordnen viele Menschen in Europa, die sich mit der Lehre des Islam kaum oder nur oberflächlich auseinandergesetzt haben, viele Erscheinungen wie Gewaltbereitschaft, Prügelstrafe für Kinder oder die Unterdrückung der Frau dem Islam zu. Nach einer fairen und objektiven Auseinandersetzung mit den primären Quellen der islamischen Lehre würden solche Menschen ihre Meinung dazu ändern. 

Welche Rolle spielt die Kultur?

Zurück zur kulturellen Prägung. In der Kulturwissenschaft werden drei Kulturbegriffe unterschieden. Der interkulturell-ästhetische Kulturbegriff, der materielle Kulturbegriff und der anthropologische Kulturbegriff nach Hofstede (vgl. Lüsebrink 2012: 10f.).

Der interkulturell-ästhetische Begriff stellt die Kunst und die Bildung eines bestimmten Kulturkreises dar. Hierzu zählen große Werke von Dichtern, Denkern, Komponisten und Ähnliches, die wiederum aufgrund der verschiedenen Epochen und dem historischen Hintergrund unterschiedlich wirken. (vgl. ebd.: 11)
Unter dem materiellen Kulturbegriff versteht man dagegen die Kultur der verschiedenen Arbeitswelten, wie die Handwerkskultur, die Unternehmenskultur oder die Gastronomiekultur etc. (vgl. ebd.: 11) Letzterer dagegen, der anthropologische Kulturbegriff nach Hofstede, beschäftigt sich mit den verschiedenen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern einer bestimmten Gesellschaft. Hofstede sieht die Kultur als ein kollektives Phänomen (vgl. Hofstede  1993, 19, zit. nach Lüsebrink 2012:11).
„Sie ist die kollektive Programmierung des Geistes, die die Mitglieder einer Gruppe oder Kategorie von Menschen von einer anderen unterscheidet.“ (vgl. ebd.:11)

Diese geistige Programmierung von verschiedenen Verhaltens- und Denkmustern wird nach Hofstede durch drei verschiedene Ebenen beeinflusst. Durch die menschliche Natur, also die Gene, die man biologisch seit der Geburt in sich trägt (vgl. ebd.:12). Des Weiteren durch die individuelle Persönlichkeit, bei der neben den Einflüsse der genetischen Verankerung die der individuellen biographischen Lebenserfahrungen mitverantwortlich sind. Zuletzt die Kultur der primären Sozialisationsinstanz, also der Familie, und später der Einfluss der sekundären und tertiären Sozialisationsinstanzen (vgl. ebd.:12). Hofstede bezeichnet den Kulturbegriff auch als Software of the mind. Wie in der unten angeführten Grafik deutlich wird, unterscheidet er hierbei wiederum zwischen vier unterschiedlichen Tiefebenen, durch die eine Kultur stark geprägt wird, im sogenannten Zwiebelmodell. Zum einen finden sich darin Werte und Rituale und zum anderen Helden und Symbole einer bestimmten Kultur. (vgl. ebd.:11)

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Zu erkennen ist, dass die ganz äußere Schicht dieses Zwiebelmodells die Symbole darstellt. Unter Symbolen werden bestimmte Worte, Gesten, Bilder oder Objekte verstanden, denen in einer Kultur bestimmte Bedeutungen zugeschrieben werden und die von Menschen aus dem gleichen kulturellen Hintergrund gleichermaßen verstanden werden können. Nach Hofstede zählen hierzu auch die Kleidung oder die Haartracht und bestimmte Statussymbole. (vgl. Hofstede 1993, 22, zit. nach Lüsebrink 2012:11)
Wie in der Abbildung verdeutlicht wird, folgt nach der äußeren Symbolschicht die Schicht der Helden. Hierzu zählen bestimmte berühmte Personen bzw. Identifikationsfiguren, die entweder verstorben sind oder noch leben und in einer Kultur als Verhaltensvorbilder gelten. Diese können sowohl Schriftsteller sein, oder aber auch Künstler, Politiker, Sportler – in vielen Kulturen auch religiöse Führer. (vgl. ebd.:11) 

Anschließend folgt die Schicht der Rituale. Hofstede übersetzt die Rituale als kollektive Tätigkeiten. Hierzu zählen zum Beispiel die Form des Grüßens, aber auch der Ausdruck der Hochachtung und Verehrung gegenüber einer Person, die älter ist oder einen höheren Rang besitzt. Auch nach einem bestimmten Ritus ablaufende religiöse und soziale Feierlichkeiten zählen dazu. (vgl. Hofstede  1993, 33, zit. nach Lüsebrink 2012:11) 

Wie die Abbildung verdeutlicht, bilden die Werte den Kern einer Kultur. Hierbei geht es darum, dass man bestimmte Umstände kulturell unterschiedlich priorisiert und manchen Sachverhalten größere Bedeutung zuschreibt als anderen. Hofstede bezeichnet hierbei verschiedene Empfindungen, die je nach kultureller Befindlichkeit zum Plus- oder Minuspol zugeordnet werden. Zum Beispiel die Auffassung von Gut und Böse, schmutzig und sauber, hässlich und schön. Aber auch das Verständnis paradox/logisch oder irrational/rational ist von den Werten einer bestimmten Kultur abhängig. (vgl. Lüsebrink 2012: 12) 

Nach Hofstede spielt ein weiterer Faktor der Kulturdimension, nämlich die Machtdistanz innerhalb der verschiedenen Kulturen, eine besonders große Rolle. Unter Machtdistanz werden nach Hofstede die Toleranz und Akzeptanz ungleicher Verteilung bestimmter Personen mit bestimmten Machtpositionen sowie hierarchische Beziehungen und Strukturen verstanden, die wiederum in der primären Sozialisation widergespiegelt werden (vgl. Hofstede  2001, 98, zit. nach Lüsebrink 2012:23f.). 

Power Distance has been defined as the extent to which the less powerful members of organizations and institutions (like the family) accept and expect that power is distributed unequally.” (vgl. Hofstede 2011:9) 

Die unten aufgeführten Grafiken verdeutlichen den Machtdistanz-Index (PDI). 

„In Hofstede et al. (2010) Power Distance Index scores are listed for 76 countries; they tend to be higher for East European, Latin, Asian and African countries and lower for Germanic and English-speaking Western countries.” (vgl. Hofstede 2011: 10)  


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Zu erkennen ist, dass in vielen arabischen und südostasiatischen, aber auch in lateinamerikanischen Ländern höhere Machtdistanzwerte festgestellt werden können. In den meisten westlichen Ländern sind dagegen vergleichsweise niedrigere Machtdistanzwerte zu beobachten.(vgl. Hofstede 2010:58).

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Pakistan und Indien beispielsweise weisen im Vergleich zu Deutschland höhere Machtdistanzwerte auf. Dabei belegt nach der Abbildung Indien mit 77 PDI-Punkten die 17/18 Position und Pakistan erreicht mit 55 Punkten Position 48. Deutschland dagegen ist mit 35 MDI-Punkten auf Platz 65/67 positioniert. (vgl. Hofstede  2010: 57f.)
Je niedriger die Machtdistanz, desto einfacher ist nach Hofstede die Wahrscheinlichkeit für einen friedlichen Kompromiss zwischen zwei Parteien. 

„Large PD societies tend to be unable to resolve power struggles peacefully; the smaller the Power Distance, the greater the likelihood of a compromise.” (vgl. Hofstede 2013: 6) 

Kultur und Religion beeinflussen sich dabei zwar gegenseitig sehr stark, aber sie müssen dennoch getrennt begutachtet werden. Auch im Alltag erscheinen diese Dimensionen vermischt, was deshalb zu Fehlinterpretationen führt. Aufgrund dieser Verflechtung werden dem Islam häufig gewaltverherrlichende Inhalte zugeordnet. 

Die Dimension Machtdistanz macht indes deutlich, dass unabhängig von Religion sich Personen aus gleichen Kulturen ähnlich verhalten. Wenn einzelne arabische oder pakistanische  Eltern mit ihren Kindern streng umgehen oder Kinder gar mit einer Prügelstrafe bestraft werden, ist das vielmehr auf das Machtgefälle der jeweiligen Kultur oder auf die Bildungsferne der jeweiligen Familie zurückzuführen. 

Gewalt nicht im islamischen Glauben verankert

Gerade die islamische Lehre hat, wie in anderen Bereichen auch, für den Umgang mit Kindern eindeutige Regelungen und Vorschriften, die den meisten Menschen aufgrund mangelnder Recherche ungeläufig sind. Der Heilige Prophet des Islam, Muhammad (saw), hat die Muslime entgegen der Praxis seiner Zeit dazu angehalten, Kinder zu respektieren. Er erklärte den Muslimen, Kinder, und zwar Mädchen wie Jungen, zu lieben und zu fördern und hat es missbilligt, dass auf sie herabgeschaut wird. Es reicht den qur’anischen Lehren nach nicht aus, wenn Eltern ihre Kinder mit Kleidung und Essen versorgen. Ein gütiger Umgang und eine gute Erziehung sind für muslimische Eltern ebenso verpflichtend. Selbst in herausfordernden Situationen ist es den Eltern nicht gestattet, die Kinder zu schlagen oder mit einer Prügelstrafe zu versehen. Gläubige Eltern werden in diesen Situationen aufgefordert, gelassen zu bleiben und für die Kinder zu beten. Dazu lehrt der Qur’an unter anderem folgendes Gebet.

„Unser Herr, gewähre uns an unseren Frauen und Kindern Augentrost, und mache uns zu einem Vorbild für die Rechtschaffenen.“ (25:75) 

Der Verheißene Messias des Islam, Hadhrat Mirza Ghulam Ahmad aus Qadian (as), brachte die islamische Lehre auf den Punkt, indem er die Prügelstrafe sogar mit Götzendienst gleichsetzte, da man durch dieses Verhalten versuche, sich selbst Gott gleichzustellen, was in der islamischen Lehre die größte Sünde darstellt. Gerade bei Autoritätspersonen liegt also die große Verantwortung, mit eigenem guten Beispiel voranzugehen und nicht etwa, wie es auch in der Bibel heißt, Wasser zu predigen, aber Wein zu trinken. Von Kindern anständiges Verhalten zu erwarten, während man selbst ungehalten und aggressiv ist, fällt in diese Kategorie. Im Qur’an liest sich dies folgendermaßen:

»Höchst verabscheuungswürdig ist es vor Allah, dass ihr sagt, was ihr (selbst) nicht tut.« (61:4)

Erwachsene, ob Eltern, Nachbarn, Lehrer oder sonstige, sind dazu verpflichtet, mit Kindern einen guten und respektvollen Umgang zu hegen, da sie dafür von Gott zur Rechenschaft gezogen werden. So ermahnte der Prophet (saw):

„O ihr Menschen, jeder von euch ist ein Hüter und ist Gott, dem Allmächtigen, für die Menschen in seiner Obhut verantwortlich.“ (Mishkat al-Masabih Hadith Nr. 3685 & Sahih Bukhari)

In einer anderen Überlieferung wird berichtet, wie gütig und liebevoll der Heilige Prophet (saw) mit seinen Enkelkindern umgegangen ist. Ein Beduine beobachtete ihn dabei und erklärte, dass sie selbst mit ihren Kindern niemals einen solchen liebevollen Umgang hegten. Der Prophet antwortete: „Was kann ich tun, wenn Allah dir die Barmherzigkeit aus deinem Herzen entzogen hat?“  (Bukhari, Hadith Nr. 5998)
Ein anderer Gefährte berichtet, dass er an einem Morgen nach Abschluss des gemeinschaftlichen Gebets den Heiligen Propheten (saw) auf seinem Heimweg begleitete. Unterwegs trafen sie auf einige Kinder, deren Wangen der Heilige Prophet (saw) liebevoll streichelte. (Sahih Muslim, Hadith Nr. 2329)
Der Heilige Prophet Muhammad (saw) hatte auch einen Adoptivsohn namens Zaid (ra). Zaid war ursprünglich ein Sklave, und in Arabien hatte ein Sklave keinen gesellschaftlichen Status. Wie auch überall sonst war diese Klasse sehr unterdrückt und verachtet. Doch der Heilige Prophet Muhammad (saw) schätzte nicht nur Zaid sehr, sondern liebte auch dessen Sohn Usama und behandelte ihn wie seine eigenen Kinder. Der Heilige Prophet (saw) pflegte seinen Enkel Hussain auf einen seiner Oberschenkel zu setzen und Usama auf seinen anderen. Er drückte sie fest und sagte dabei: “O Allah, ich liebe die beiden. Liebe auch Du sie.” Der Heilige Prophet (saw) putzte mit eigenen Händen Usama die Nase. (Bukhari, Kitab-ul-Manaaqib)

Dies ist nur eine kleine Auswahl aus den islamischen Lehren, woraus deutlich wird, dass ein respektloser Umgang mit Kindern, geschweige denn eine Prügelstrafe, nicht mit der Religion in Verbindung gebracht werden kann und auf keine Art und Weise damit zu vereinen und zu rechtfertigen ist. Ebenso verhält es sich mit weiteren Dimensionen, wie etwa die vielzitierte Rolle der Frau im Islam. 

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Chaudry, R.A. (1989): Kinderfreundlichkeit des Heiligen Propheten saw. Frankfurt. Islam International Publications Ltd. 

Lüsebrink, H. (2012): Interkulturelle Kommunikation: Interaktion, Fremdwahrnehmung, Kulturtransfer. Deutschland, J.B. Metzler Verlag.

Hofstede, G. et al. (2010): Cultures and Organizations. Software of the mind. Intercultural Cooperation and Its Importance for Survival. New York, McGraw-Hill. 

Hofstede, G. (2011): Dimensionalizing Cultures: The Hofstede Model in Context. Online Readings in Psychology and Culture, 2(1). https://doi.org/10.9707/2307-0919.1014 

Hofstede, G. (2013): “Replicating and Extending Cross-National Value Studies: Rewards and Pitfalls-An Example from Middle East Studies”, Insights [Online] 13/2, 5-7 S. (abrufbar unter https://geerthofstede.com/wp-content/uploads/2016/08/Replicating-and-Extending.pdf ; Stand: 14. 04. 2024)

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