von Scharjil Khalid
*dieser Artikel wurde ursprünglich für die Berliner-Zeitung verfasst. Mit ihrer freundlichen Genehmigung wird er hier für die Leserinnen und Leser der Revue der Religionen nochmals veröffentlicht.
Bevor der Ramadan überhaupt beginnt, stellen sich Muslime bereits auf die gleichen Fragen ein, die jedes Jahr gebetsmühlenartig wiederholt werden: Werdet ihr zum Fasten gezwungen? Wie schafft ihr es, den ganzen Tag nichts zu essen? Was ist mit Trinken? Ihr müsst doch Wasser trinken. Das kann nicht gesund sein, ihr dehydriert hier noch.
Überraschenderweise stand Ramadan dieses Jahr im Zeichen einer ganz neuen Debatte: der Ramadan-Beleuchtung in Frankfurt. Doch wer glaubt, dass man den üblichen Fragen entgehen konnte, irrt sich. Die bekannten Fragen folgten dieses Mal einfach nur mit etwas Verzögerung.
Oft ist vielen dabei nicht klar, dass es im Ramadan weder um Essen und Trinken noch um irgendwelche Straßenbeleuchtungen geht. Vielmehr besteht das eigentliche Ziel darin, sich in diesem Monat selbst zu reflektieren, Selbsterkenntnis zu erlangen und sich spirituell sowie moralisch weiterzuentwickeln.
Das islamische Trockenfasten beschleunigt die Autophagie
Aber der Reihe nach: Wie ist es möglich, einen ganzen Tag ohne Essen und Trinken auszukommen und das über 30 Tage hinweg?
Es mag für viele überraschend klingen, doch aus wissenschaftlicher Sicht ist das islamische Fasten außerordentlich gesund. Es fördert ähnlich wie das Trockenfasten die sogenannte Autophagie, einen Recyclingprozess der Zellen. Durch den Verzicht von Nahrung werden geschädigte Zellorgane entfernt, und die Zellen gesäubert und erneuert. Dies führt mitunter zu einer starken Immunabwehr, die vor allem dann eintritt, wenn etwa 16 Stunden auf Nahrung verzichtet wird und dies über mehrere Tage hintereinander geschieht.
Das islamische Trockenfasten beschleunigt die Autophagie zusätzlich, indem Flüssigkeit verwehrt wird. Der Verzicht auf Wasser löst ein intra- und extrazelluläres Ungleichgewicht im Flüssigkeitsvolumen aus. Der Körper reagiert darauf mit einem Ausgleich des Wasserhaushalts, indem er ineffektive Zellen, Toxine und Schadstoffe ausscheidet und durch effektive neue Zellen ersetzt. Somit wird durch den Verzicht auf Flüssigkeit weitere zelluläre Entgiftung erreicht. Mitunter wegen dieser gesundheitlichen Vorteile heißt es im Heiligen Qur’an: „Fasten ist gut für euch, wenn ihr es begreift (2:185)“
Kapitalistische Gesellschaft der Singularitäten
Der Verzicht auf Essen und Trinken ist somit kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Schließlich erklärte der Heilige Prophet Muhammad (saw), dass das Fasten eines Muslims, der lügt, beleidigt oder moralischen Lastern nachgeht, wertlos und unnütz ist. Ergo hat der Ramadan eine tiefe moralische und zwischenmenschliche Dimension. Wenn man den ganzen Tag nichts isst und trinkt, wird einem erst bewusst, wie schwer es weniger bemittelte Menschen haben. Man entwickelt nicht nur Dankbarkeit, sondern auch einen großen Drang, seinen Mitmenschen zu helfen. Aus diesem Grund wird überliefert, dass der Heilige Prophet Muhammad (saw) immer viel für Bedürftige spendete, aber dies im Ramadan so verstärkte, dass er wie ein stürmischer Wind Almosen verteilte.
Hierbei ist Empathie ein Schlüsselbegriff, eine Eigenschaft, die den Menschen von Natur aus auszeichnet, die aber leider zunehmend zu verkümmern scheint. Die beispiellose Empathielosigkeit im aktuellen Krieg in Gaza steht exemplarisch dafür. Indessen ist die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid der Palästinenser keine plötzliche Erscheinung, sondern eine logische Konsequenz der kapitalistischen Gesellschaft der Singularitäten.
Der Ramadan scheint wie ein Lichtblick
Bereits vor über 100 Jahren erkannte Marx, dass der Kapitalismus und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Verhältnisse eine erhebliche Entfremdung verursachen, durch die sich der Mensch nicht nur von sich selbst, sondern auch von seinen Mitmenschen entfremdet. Der Fetischcharakter der Ware mystifiziert materielle Güter in einem Maße, dass sie beginnen, Kontrolle über den Menschen zu übernehmen, wie Marx beschreibt. Das Leben und Wohlergehen des modernen Menschen werden der Bewegung der Ware unterworfen und von ihr abhängig gemacht. Die Gesellschaft ist fortan derart kommodifiziert, dass selbst der Mensch zur Ware verdinglicht wird.
Inmitten dieses radikalen Materialismus scheint der Ramadan wie ein Lichtblick, über den der große Gelehrte des Islam und Gründer der Ahmadiyya Muslim Jamaat – Hadhrat Mirza Ghulam Ahmad (as) – schreibt:
„Zweck und Absicht ist die Nähe Gottes, indem man sich weniger mit weltlichen Dingen beschäftigt. Durch den Verzicht auf Essen zeigt der Muslim, dass er für Gottes Liebe sogar auf das grundlegendste weltliche Bedürfnis verzichtet.“
Der Konsument wird zum „ewigen Konsumenten“
Folglich besteht das Ziel darin, den Geist zu veredeln, indem man Gott gedenkt und dabei weitestgehend Materiellem entsagt. Basierend auf Marx‘ Theorie hielt Adorno eben diese Geistveredelung in der kapitalistischen Gesellschaft für unmöglich, da die Moderne mit ihrer Kulturindustrie den Menschen auf seine Triebe und Begierden reduziert. Adorno und Horkheimer zeigen auf, wie die Kulturindustrie als kapitalistischer Apparat den Fetischcharakter der Ware und somit die Entfremdung des Menschen verstärkt.
Indem die Kulturindustrie das „unglückliche Bewusstsein“ des Individuums unter den Vergnügungen der Massenkultur und des Konsums begräbt, sorgt sie dafür, dass die Entfremdeten die Qualen ihres Zustands nicht spüren. „Verderbt ist die Kulturindustrie, aber nicht als Sündenbabel, sondern als Kathedrale des gehobenen Vergnügens“, bemerkte Adorno. Die Metapher der Kathedrale des gehobenen Vergnügens deutet darauf hin, dass die Kulturindustrie ihre Produkte oft in einer Art und Weise präsentiert, die den Anschein von Originalität und Erhabenheit erweckt. Dabei handelt es sich jedoch lediglich um eine Illusion, die dazu dient, die Konsumenten zu verführen. In Wirklichkeit „schlägt Kultur heute alles mit Ähnlichkeit“, indem die Kathedrale des gehobenen Vergnügens im Wesentlichen Kultur standardisiert und trivialisiert.
Trotz der Oberflächlichkeit schafft es die Kulturindustrie nach Adorno, die Menschen als unreflektierte Konsumenten an sich zu binden, indem sie künstlich Bedürfnisse schafft. Es entsteht ein Gordischer Knoten: Bedürfnisse werden von der Kulturindustrie produziert, den Menschen aufgezwungen und befriedigt. Wenn die bestehenden Bedürfnisse befriedigt und veraltet sind, werden neue Bedürfnisse geschaffen. In seiner Abhängigkeit wird der Konsument zum „ewigen Konsumenten“, der nur noch als „Objekt der Kulturindustrie“ leben kann.
Oasen der Freiheit
Diesen Teufelskreis der Bedarfsweckungsgesellschaft beschreibt Herbert Marcuse eingehend in seinem Werk „Der eindimensionale Mensch“. Marcuse beklagt die Abstumpfung durch die „fortgeschrittene Industriegesellschaft“, in der Konsum und das Streben nach materiellem Wohlstand als höchste Werte betrachtet werden. Er argumentiert, dass die „affluent society“ eine Illusion der Freiheit erzeugt, während sie tatsächlich eine Form der Unterdrückung durch Konformität und Konsumismus darstellt. Die Fixierung auf materiellen Wohlstand und Konsum drängt die Menschen in eine eindimensionale Existenz, in der ihre Fähigkeit zur kritischen Reflexion und ihr Streben nach alternativen Lebensstilen und Werten erstickt werden.
„Immerwährend betrügt die Kulturindustrie ihre Konsumenten um das, was sie immerwährend verspricht“, konstatiert Adorno. Die Kulturindustrie speist die Konsumenten mit trivialen, oberflächlichen Nichtigkeiten, wodurch das Leben zu einem Betrug wird, bei dem das menschliche Äußere erhalten bleibt, während die Seele ausgesaugt wird. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, erklärte Adorno, schien jedoch ratlos hinsichtlich der Frage, wie der Mensch dem Konsumdrang der Kulturindustrie entfliehen und ein authentisches Leben führen kann. Selbst die Freizeit, die nach Adorno und Horkheimer eigentlich zur Selbstverwirklichung dienen sollte, wird von der Kulturindustrie vereinnahmt. Die beiden Philosophen der Frankfurter Schule sehnten sich daher nach geistigen Oasen, die wirkliche Freiheit des Denkens und Selbsterkenntnis ermöglichen.
Nicht allein das „Sein bestimmt das Bewusstsein“
Als eine solche Oase versteht der Muslim den islamischen Fastenmonat Ramadan, der den Menschen von der Bedarfsweckung auf die Bedarfsdeckung zurückführt. Er sieht den Menschen nicht als bloßen Konsumenten, der in gesellschaftlicher Konformität verharrt und rastlos nach materiellem Wohlstand strebt. Der Ramadan bietet dem Muslim die ideale Grundlage, um sich von der täglichen Reizüberflutung der Kulturindustrie zu befreien. Er schafft ein Umfeld, in dem der Muslim auch im Falschen ein richtiges Leben führen kann. Anders als Marx, Adorno, Horkheimer und Marcuse sieht der Ramadan die Befreiung aus der Entfremdung und Abstumpfung aber nicht in weltlichen, sondern in spirituellen Sphären, wie der Verheißene Messias Hadhrat Mirza Ghulam Ahmad (as) erläutert:
„Die eigentliche Bedeutung des Fastens liegt einzig darin, dass der Mensch eine Nahrung aufgibt, die nur den Körper nährt und eine andere Nahrung aufnimmt, die zur Befriedigung und Sättigung der Seele beiträgt.“
Körper und Geist bedingen sich nicht nur aus islamischer Sicht, auch empirische Studien legen nahe, dass Fastende einen sogenannten „Fasten-High“ Zustand mit spirituellen und geistigen Erfahrungen erleben. Grund dafür ist die erhöhte Konzentration vom Glückshormon Serotonin, das schon bei kurzfristigem Nahrungsentzug ausgeschüttet wird. Wird für längere Tage gefastet, verweilt das Glückshormon länger im Blut und sorgt fortwährend für aufhellende Stimmung.
Nicht allein das „Sein bestimmt das Bewusstsein“. Während die kritische Theorie zurecht die Oberflächlichkeit der Gesellschaft anprangert, verkennt sie die spirituellen Kräfte des Menschen. Marx und Adorno haben den Kapitalismus und die Kulturindustrie als bloßes Schattenspiel entlarvt, die eigentliche Lichtquelle konnten sie indes nicht finden. Als Muslime suchen wir dieses Licht nicht in Straßenbeleuchtungen. Wir suchen es in uns, in unseren Mitmenschen und vor allem im Gebet zu Gott.
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