
Diese Ansprache wurde von Hadhrat Mirza Bashiruddin Mahmud Ahmad (ra), dem Zweiten Oberhaupt der weltweiten Ahmadiyya Muslim Gemeinde, am 25. Juni 1944 in Qadian, Indien, gehalten.
Übersetzt von der Revue der Religionen. Die Revue der Religionen übernimmt die volle Verantwortung für etwaige Übersetzungsfehler.
Nach der Rezitation von tašahhud, taʿawwuḍ und der Sure al-Fātiḥa sagte Hadhrat Mirza Bashiruddin Mahmud Ahmad (ra):
»Gott, der Allmächtige, hat das Leben für den Menschen recht eigenartig gestaltet. Abgesehen vom Wesen Gottes selbst ist alles in gewisser Weise sowohl notwendig als auch entbehrlich. Einzig das Wesen Allahs ist absolut notwendig. Zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einer bestimmten Umgebung mag etwas Bestimmtes notwendig erscheinen, so als ob es der Mittelpunkt wäre, um den sich alles auf der Welt dreht. Doch trotz alledem vergeht es nach einer Weile. Zwar hinterlässt es für eine gewisse Zeit eine Wirkung und Spur, doch die Welt dreht sich ganz normal weiter. Dann treten neue Wesen auf, von denen die Menschen glauben, die Welt könne ohne sie nicht funktionieren. Auch sie erlöschen, und für kurze Zeit hinterlassen sie zwar eine Wirkung und ihre Zeichen, doch danach gewöhnen sich die Menschen gemäß dem Willen Gottes an die Umstände ihrer eigenen Zeit und halten schon bald eine neue Persönlichkeit für äußerst unentbehrlich.
Als Allah, der Allmächtige, den Propheten Adam (as) erschuf, stand die Welt [Zivilisation] noch ganz am Anfang. Die Menschen wussten nicht, welcherlei Geschöpfe Gott auf der Erde noch hervorbringen würde. Das neue Wort Gottes wurde Adam offenbart – neu insofern, als es in dieser Form zuvor nicht herabgesandt worden war. Zu dem Zeitpunkt besaßen die Menschen außerhalb ihrer Glaubensvorstellungen keinen Anhaltspunkt, um zu verstehen, dass diese Form der Kommunikation Gottes irgendwann wieder der Welt offenbart werden sollte – und schließlich ist der Mensch auch ein Sklave seiner eigenen Erfahrungen. Wie schmerzhaft müssen jene Momente für die Gefährten Adams gewesen sein, als sie darüber nachdachten, dass auch Adam (as) diese Welt eines Tages verlassen würde? Sie hatten kein Beispiel vor sich, anhand dessen sie sich hätten vorstellen können, dass ein anderer Mann der Stellvertreter Adams (as) werden könnte. Sie sahen alle Gnaden Gottes in Adam (as) zentriert und vereint. Der Gedanke, diese Gnaden in noch größerem Maße in jemand anderem verkörpert zu sehen, erschien ihnen als irrtümlich, denn sie hatten keinen Menschen gesehen, der Adam (as) übertraf.
Kurzum, Adam (as) – von dessen Lehre sich nirgendwo eine Spur findet außer im Heiligen Qur’an, von dessen Wirken in der moralischen Erziehung sich in keiner Geschichtsschreibung der Welt eine Spur findet außer im Heiligen Qur’an – war für die Menschen seiner Zeit so wichtig wie Wasser und Luft zum Erhalt des Lebens. Sie betrachteten Adam (as) als das Mittel, um ihr spirituelles Leben zu begründen, und ihr spirituelles Leben als das Werk Adams (as). Doch dann kam der Tag, an dem Gottes Ratschluss Adam (as) abberief. Wie schmerzhaft muss dieser Tag für die gläubigen Anhänger Adams (as) gewesen sein! Wie leer und im Dunkeln gelassen, müssen sie sich innerlich gefühlt haben. Doch jene Generation verging, ebenso wie die nachfolgende Generation. In ähnlicher Weise vergingen viele Generationen, und der Wert Adams (as) schwand in ihren Herzen, bis zu dem Punkt, dass sie sogar Denjenigen vergaßen, durch Den diese Wertschätzung für Adam (as) überhaupt begründet war: nämlich Gott. Sie brachen die Beziehung zu Ihm und beschränkten all ihre Bemühungen auf das irdische Leben.
An diesem Punkt sandte Gott Noah (as) in die Welt, oder zumindest ist es der Prophet Noah (as), dessen Erwähnung für uns als notwendig erachtet wurde. Gewiss mögen dazwischen auch andere Persönlichkeiten erschienen sein, aber die nächste bedeutende Persönlichkeit, die der Qur’an erwähnt, ist der Prophet Noah (as). Wie die Menschen, die an Noah (as) glaubten, wohl empfunden haben müssen, als sie dadurch aus der Dunkelheit ins Licht traten. Sie ließen ein Leben der Einsamkeit hinter sich und genossen fortan die Gesellschaft eines Propheten. Stellt euch vor, wie ihnen durch das neueste Wort Gottes und dessen erkenntnisreichen Lehren neues Leben eingehaucht wurde, wie sie Gewissheit erlangten, und wie sie sich gefreut haben müssen, als sie feststellten, dass ihre Annahme, Gottes Wort und Licht würden nicht mehr auf die Erde herabkommen, falsch war. Sie müssen darüber nachgedacht haben, wie Gott ihnen, nachdem sie völlig vom weltlichen Leben vereinnahmt waren, erneut Seine Hand reichte, um sie aus den Abgründen der Dunkelheit zu ziehen und sie ins Licht der Erkenntnis zu führen. Doch selbst die Menschen zur Zeit Noahs (as) müssen sich gefragt haben, ob es denn überhaupt möglich sei, dass es nach dem Propheten Noah (as) eine noch größere Gabe und weiteren Segen geben könnte. Sie müssen geglaubt haben, dass sie die Empfänger der letzten von Gott verliehenen Gabe seien, weshalb sie ein glückliches Leben verbringen können und vor einem Leben der Trennung und Einsamkeit bewahrt wurden. Sie müssen gedacht haben, dass Gott nun bei ihnen ist und sie bei Gott.
Doch dann kam die Zeit, in der die vollkommene Weisheit Gottes auch den Propheten Noah (as) abberief. Den Zustand der Anhänger Noahs (as) in diesem Moment können wir nachvollziehen, da wir die Ehre haben, der Gemeinschaft eines Propheten anzugehören; andere hingegen können dies nicht einmal ansatzweise begreifen. Für sie war es, als ob eine strahlende Sonne sich plötzlich verfinsterte oder ein leuchtender Mond sich verdunkelte. Das strahlende Antlitz Allahs, das für ihre Augen sonst stets sichtbar war, schien nun im Nebel zu verschwinden. Sie müssen gedacht haben, dass die Welt nun in einen Abgrund des Untergangs gestürzt sei. Doch der Glaube, den Noah (as) in ihnen erzeugt hatte, war in ihren Herzen noch präsent. Aufgrund dieses Glaubens mag ihnen gedämmert haben, dass Gott, so wie Er Noah (as) nach Adam (as) gesandt hatte, möglicherweise auch nach Noah (as) jemanden berufen könnte. So blieb ein kleiner Funke Hoffnung in ihren Herzen lebendig, obgleich diese Hoffnung von einer solchen Wunde, einem Schmerz und Qualen begleitet war, die außerhalb der Gemeinschaft von Propheten nirgends vorzufinden sind.
Dann – und wer weiß, nach wie langer Zeit, nach wie vielen Wandlungen, nach wie vielen kleineren Lichtblicken – ließ Gottes Gnade Abraham hervortreten, und dieselbe innere Verfassung, die einst die Menschen zur Zeit Noahs erlebten, zeigte sich nun auch in Abrahams Zeit. Angesichts der Entwicklung des menschlichen Verstandes in jener Ära beschloss Gott, für die Rechtleitung der Menschen nun einen Propheten nach dem anderen zu senden. So wurden nach Abraham (as) Isaak (as) in einem Volk und Ismael (as) in einem anderen aufgestellt. Danach kam Jakob (as), gefolgt von Josef (as). Diese Abfolge setzte sich fort, und die Menschen wurden fortwährend mit göttlichem Licht erleuchtet. Doch es kam eine Zeit, in der die Welt erneut in die Tiefen der Dunkelheit versank, in die Irre ging, und der frischen Zeichen Gottes beraubt blieb. Diese Zeit der Verirrung hielt an, bis die Ära des Propheten Moses (as) anbrach – und er erneuerte den Bund zwischen den Menschen und Gott.
Danach kamen wieder nacheinander Propheten, um die Menschen zu leiten. David (as) kam, Salomo (as) kam, Elias (as) kam, Johannes (as) kam, Jesus (as) und schließlich erschien unser Heiliger Prophet (Friede und Segen Allahs seien auf ihm). Als Adam (as) berufen wurde, dachten die Menschen seiner Zeit, Gott habe ein besonderes Licht geschaffen und etwas völlig Neues sei geschehen. Sie fragten sich, wie könnte so etwas noch einmal geschehen? Basierend auf ihren eigenen Erfahrungen betrachteten sie Adam (as) als den ersten Propheten und dachten, er sei auch der letzte Prophet. Dasselbe Gefühl begann in den Herzen der Menschen zur Zeit des Heiligen Propheten (saw) zu entstehen. Der Punkt ist, dass jeder einzelne Prophet so sehr geliebt wird, dass seine Gemeinschaft glaubt, er sei der letzte Prophet. Der Heilige Qur’an erwähnt, dass die Anhänger des Propheten Josef (as), als dieser verstarb, sagten, nach ihm werde kein Prophet mehr entsandt werden.[1] Tatsächlich sind die Propheten so faszinierende Verkörperungen der Barmherzigkeit, Fürsorge, Gunst und Güte Gottes, dass die Menschen, nachdem sie sie erlebt haben, sich überhaupt nicht vorstellen können, dass die Welt solche Wesen jemals wieder hervorbringen könnte.

Der Heilige Prophet (saw) war jedenfalls ein Prophet, über den der Anspruch existierte, dass er das Siegel der Propheten [Khatam an-Nabiyyin] ist und die von ihm gebrachte Scharia die letzte Scharia [religiöses Gesetz]. In den Augen Gottes bedeutete dies, dass der Heilige Prophet (saw) der letzte gesetzbringende Gesandte ist und dass nun, wenn ein Gesandter oder Reformer in dieser Welt erscheinen sollte, dies ausschließlich durch die spirituellen Segnungen des Heiligen Propheten (saw) geschehen könnte; er würde ein Diener und Schüler des Heiligen Propheten (saw) sein. Diejenigen jedoch, die den Propheten miterlebten und unter ihnen jene, die mit den Angelegenheiten der Zukunft nicht vertraut waren, dachten vielleicht, dass der Heilige Prophet (saw) das letzte Licht für die Welt sei. Sie dachten auch, dass Gott dieses Licht vielleicht niemals zurücknehmen würde, und aus diesem Grund war allein schon der Gedanke über das Ableben des Heiligen Propheten (saw) für sie ein solch großer Schreck, dass sie nicht die Kraft hatten, diesen zu ertragen – und tatsächlich geschah genau das.
Als der Heilige Prophet (saw) verstarb, war diese Angelegenheit für die Gefährten so erschütternd, dass sie sogar für einen Moment die ausführlichen Lehren vergaßen, die der Gesandte (saw) Gottes ihnen 23 Jahre lang ununterbrochen vermittelt hatte. Dieser Gesandte (saw) hatte ihnen verdeutlicht, dass jemand, der diese Welt verlässt, niemals zurückkehren kann. Er hatte ihnen unmissverständlich deutlich gemacht, dass jeder, der diese Erde betritt, eines Tages von hier gehen muss. Ebenso hat das von ihm gebrachte Buch erwähnt, dass auch dieser Gesandte (saw) selbst eines Tages sterben würde. Trotz all dieser klaren Lehren rief [nach seinem Tod] ein bedeutender Anhänger seiner Gemeinschaft aus: ›Wer auch immer behauptet, dass Muhammad (saw), der Gesandte Allahs, verstorben sei, dem werde ich mit meinem Schwert den Hals durchschlagen!‹[2] Dies mag für jene Mitglieder unserer Gemeinde, die den Tod des Verheißenen Messias (as) nicht miterlebt haben, überraschend sein, und sie könnten sich beim Lesen dieses Vorfalls fragen, warum die Gefährten dachten, der Heilige Prophet (saw) würde niemals sterben. Doch wenn sie darüber aus dieser Perspektive nachdenken, wird es für sie nachvollziehbar: Wenn ein Mensch eine extreme, innige Liebe zu jemandem hat, ist bereits der Gedanke, dass der Verlust dieser Person ein eintretbarer Fall ist, für das Herz unerträglich. Und wenn diese gefürchtete Stunde kommt, deren Vorstellung den Menschen bereits beunruhigt, versetzt sie ihn vorübergehend in eine Schockstarre. Wie wahrhaftig spiegeln Hasaans Worte die Gefühle wider, die er beim Tod des Heiligen Propheten (saw) empfand. Als ihm der Verlust bewusst wurde, sprach er:
كُنْتَ السَّوَادَ لِنَاظِرِيْ فَعَمِيَ عَلَيَّ النَّاظِرُ
[3]مَنْ شَاءَ بَعْدَكَ فَلْيَمُتْ فَعَلَيْكَ كُنْتُ أُحَاذِرُ
Bedeutung: ›O Muhammad (saw)! Ihr wart doch die Pupille meines Auges – heute, da Ihr von uns gegangen seid, habe ich mein Augenlicht verloren. [Nach dir sei es mir egal, wenn jemand stirbt, denn ich fürchtete nur deinen Tod.‹]
Es sollte bedacht werden, dass die Erhabenheit und Schönheit dieses Verses darin liegt, dass der Dichter in seinem Leben bereits erblindet war, und ein Blinder vermag es ohnehin nicht zu sehen. Dass er also ausdrückte: ›Du warst die Pupille meines Auges, und mit deinem Tod habe ich mein Augenlicht verloren‹, bedeutete, dass er seine Blindheit, solange er in der Gegenwart des Heiligen Propheten (saw) war, nicht als Problem empfand. Obwohl er sein physisches Sehvermögen zuvor bereits verloren hatte, war er glücklich, fröhlich und heiter, weil er wusste, dass seine spirituellen Augen vorhanden waren. Er hatte die Pupille, durch die er Gott sehen konnte. Was machte es schon, dass er mit seinen physischen Augen weder eine Gießkanne noch ein Glas sehen konnte? Er besaß die Pupille, mit der er seinen Schöpfer sehen konnte. Was bedeutet die Freude, eine Gießkanne oder ein Glas zu sehen oder Farben wahrzunehmen? Die wahre Freude besteht darin, dass der Mensch seinen Herrn sehen kann. Doch an diesem Tag wurde ihm die Pupille seines Auges genommen; jene Brille, durch die er sehen konnte, wurde ihm entrissen, weshalb er sagte:
فَعَمِيَ عَلَيَّ النَاظِرُ
O Menschen! Früher habt ihr mich blind genannt, aber in Wirklichkeit bin ich heute blind geworden!
مَنْ شَاءَ بَعْدَكَ فَلْيَمُتْ
Meine Frau lebt noch, meine Kinder sind bei mir, ebenso wie meine Freunde und Verwandten. Doch es kümmert mich nicht, wenn einer von ihnen nun stirbt; wer auch immer stirbt, sei’s drum, ihr Tod wird mir nicht so viel Schmerz und Sorge bereiten wie dieser Tod.
فَعَلَيْكَ كُنْتُ أُحَاذِرُ
O Gesandter (saw) Allahs! Ich fürchtete nur diesen einen Tag, an dem mir mein [spirituelles] Augenlicht genommen wird.
Der Heilige Prophet (saw) hob die Araber aus den Tiefen völliger Dunkelheit empor und bewahrte sie vor dem Untergang. Er rettete sie aus völliger Erniedrigung und führte sie auf eine erhabene Entwicklungsstufe. Als Zeugen dieser Verwandlung erreichte die Achtung und Wertschätzung der Gefährten für diesen Gefallen und die Wohltaten des Heiligen Propheten (saw) ein Maß, das von den Nachkommenden selbstverständlich nicht erreicht werden konnte. Nichtsdestotrotz verging die Zeit, und sie verging weiter, bis eine Periode eintrat, in der die Liebe zum Heiligen Propheten (saw) nur noch auf den Lippen der Menschen war und nicht mehr in ihren Herzen wohnte. Obwohl das Licht Gottes in schriftlicher Form fortbestand, war es aus den Köpfen der Menschen erloschen. Die Welt vergaß Gott, und ihr Glück war nur noch an weltliche Genüsse verknüpft. So wie ein Baum entwurzelt und an anderer Stelle neu eingepflanzt werden kann, so wurden auch die Menschen aus dem Feld Gottes herausgerissen und fest in die Erde Satans verpflanzt. All ihr Vergnügen und ihr Glück war nun mit satanischen Handlungen verknüpft. In einer solchen Zeit entsandte Gott den Verheißenen Messias (as) zur Rechtleitung der Menschen. Sein Erscheinen versetzte sie in Erstaunen, denn sie glaubten, dass nach dem Heiligen Propheten (saw) niemand kommen würde, der die Gaben Gottes in einer Weise empfangen würde, dass er mit Bestimmtheit und Gewissheit den Menschen zur Begegnung mit Gott verhelfen könnte. Jene, deren Augen geöffnet waren, nahmen den Verheißenen Messias (as) an und erlebten dieselben Gefühle wie ein verlorenes Kind, das endlich wieder von seiner Mutter auf den Schoß genommen wird. Sie sahen, wie Menschen, die seit Jahrhunderten von Gott entfernt waren, durch eben diese Person wieder in Seinen Schoß zurückkehrten. Niemand kann ihr Glück ermessen oder ihre Zufriedenheit nachvollziehen. Während jene, die dachten, Gott würde nach dem Heiligen Propheten (saw) keinen Propheten mehr senden, ihren Zorn nicht zügeln konnten, konnten gleichzeitig die Gläubigen, die den Verheißenen Messias (as) annahmen, ihre Freude und ihr Glück nicht bändigen. Also begannen sie zu denken, dass sie nach all den unzähligen Erschütterungen keiner weiteren Tragödie begegnen würden. So glaubte jeder, der den Verheißenen Messias (as) annahm – außer einigen wenigen, deren Glaube vielleicht noch nicht ausgereift war –, zumindest nicht daran, dass der Verheißene Messias (as) niemals sterben würde. Doch jeder war fest überzeugt, dass zumindest der Tod des Verheißenen Messias (as) erst nach ihrem eigenen Tod eintreten würde.

Doch der Tag kam, an dem all jene, die geglaubt hatten, sie würden diese Welt vor dem Verheißenen Messias (as) verlassen, sich noch am Leben fanden, während Gott den Verheißenen Messias (as) zu Sich gerufen hatte. Diese Zeit erwies sich als eine gewaltige Prüfung für die wahren Gläubigen, und der Schock, den sie erlitten, fügte ihnen eine so tiefe Wunde zu, dass sie unerträglich schien. Doch die unbestreitbare Wahrheit bleibt, dass alles, was von Gott kommt, letztlich zu Ihm zurückkehren muss und der Mensch sich den neuen Zuständen des Lebens unterwerfen muss. Aus diesem Grund sagte der Verheißene Messias (as):
›Also, O meine Lieben, da es von seither die Handlungsweise des Allmächtigen Gottes ist, dass Er auf zweierlei Weise seine Allmacht manifestiert, damit Er zwei falsche ‚Freuden’ der Gegner vernichte, ist es nicht möglich, dass er jetzt unüblicherweise seine Gewohnheit ändert. Aus diesem Grund sollt ihr wegen dem was ich euch berichtet habe nicht trauern noch sollen eure Herzen in Unruhe verfallen, denn es ist notwendig für euch, dass ihr auch die zweite Manifestation der göttlichen Macht miterlebt. Ihre Ankunft gereicht euch zum Vorteil, denn sie ist ewig und ihre Kette wird bis zum Jüngsten Tag nicht unterbrechen und diese andere Manifestation kann nicht kommen, ehe ich gehe. Nachdem ich aber gegangen bin, wird Gott diese zweite Manifestation zu euch schicken, die euch immer geleiten soll …‹[4]
Allah weiß am besten, wie lange dieser Zustand der Gemeinde andauern wird, wie lange das Licht Allahs unter uns bleiben wird und wie lange wir uns weiterhin an dieses Licht binden werden. Dennoch zeugt diese lange Abfolge davon, wie ein Ereignis auf das andere folgte. Wenn die Menschen die erste Sache vergessen, sendet Gott die nächste und sorgt erneut für Freude und Glück auf der Welt. Doch von Anfang bis Ende bleibt in diesem ganzen Verlauf eine Konstante bestehen: Adam (as) kam – und mit Adam kam Gott. Adam ging – doch unser lebendiger Gott blieb in dieser Welt. Noah (as) kam – und mit Noah kam Gott. Noah ging – doch unser lebendiger Gott blieb in dieser Welt. Abraham (as) kam – und mit Abraham kam Gott. Abraham verstarb – doch unser lebendiger Gott blieb in dieser Welt. Ebenso mit Ismail (as), Isaak (as), Jakob (as), Josef (as), Mose (as), Jesus (as) und dem Heiligen Propheten Muhammad (saw). Mit jedem von ihnen kam Gott. Jeder von ihnen ging von uns – aber unser Gott blieb lebendig, ist lebendig und wird lebendig bleiben. Jede Person, die eine Verbindung zu Ihm knüpft, wird sich stets in einer Erde verwurzelt finden, die von der Gnade Gottes bewässert wird. Sie wird sich nicht wie eine Pflanze fühlen, die aus guter Erde entwurzelt und in einen schlechten, unfruchtbaren Boden verpflanzt wurde.
Denkt also daran, dass die physische Fortpflanzung den Menschen zum Tod und zum Zerfall der Existenz führt, obgleich sie ihm auch eine Quelle der Freude und des Wohlbehagens ist. Die spirituelle Fortpflanzung hingegen – durch die ein reiner Mensch einen weiteren reinen Menschen hervorbringt – löscht Kummer und Leid vollständig aus der Welt aus, denn diese Art von Beziehung kennt keine Sterblichkeit und auch keine Vergänglichkeit. Wenn die Menschheit möchte, kann sie ihr Leben in ein ewiges Leben verwandeln. Der Weg dazu ist, dass jede Generation durch die Verkörperungen der zweiten Manifestation mit Gott verbunden bleibt wie die vorherige, oder gar noch inniger. Denn der Abbruch der spirituellen Fortpflanzung ist ein Tod, während der Abbruch der physischen Fortpflanzung nur ein vorübergehender Schock ist.
Schaut euch die Christen an: Ihr könnt sie nennen, wie ihr wollt – ob ihr sie Gottesleugner nennt, Kreuzesanbeter, Polytheisten oder die Irregegangenen – dennoch besitzen sie eine Sache, weswegen sich auch das Auge der Muslime vor ihnen senken muss. Den Muslimen hat Allah in der Sure an-Nūr in dem Vers über die Nachfolge[5] das Kalifat versprochen. So errichtete Allah unter den Muslimen das Kalifat gemäß diesem Vers. Doch die Muslime haben dieses von Gott eingesetzte Kalifat aus ihrem Unverstand beseitigt. Die Christen hingegen haben ihre Nachfolge [das Papsttum] selbst errichtet, die nun seit fast 1900 Jahren Bestand hat. So schaut, sie betrachten den Papst wie einen Kalifen. Obwohl ihre Religion sie nicht ausdrücklich angewiesen hat, haben sie auf die Praxis Gottes aus der Vergangenheit geschaut und es für richtig gehalten, daraus einen Nutzen zu ziehen und ein Kalifat in ihrer Mitte zu errichten. Dieses Volk ist zwar in religiöser Hinsicht völlig untergegangen; sie hat die guten Taten aus der Hand gegeben, ist gänzlich in die Farben des weltlichen Lebens eingetaucht, und hat den Geboten Gottes zuwidergehandelt – doch bis heute halten sie an dieser einen Institution fest: Selbst heute wird der Papst auf einer Stufe mit den großen europäischen Königen und Herrschern gesehen. Manche Herrscher sagen sogar, die Königswürde sei überhaupt erst durch ihn zu ihnen gelangt. Das ist es, was sie zum Erfolg geführt hat. Wenn auch die Muslime so gehandelt hätten, müssten sie den heutigen Tag nicht erleben. Sie haben das (rechtgeleitete) Kalifat beseitigt und, um sich selbst etwas vorzumachen, beschlossen, jedem König den Titel eines Kalifen zu geben. Aber kann eine hölzerne Büffelkuh einer echten Büffelkuh gleichkommen? Niemand freut sich über eine Holzkuh, aber egal wie schwach oder mager jemandes echte Kuh auch sein mag, man ist froh, die echte Kuh zu sehen – selbst wenn sie keine Milch gibt.
Weil die Muslime das von Gott eingesetzte Kalifat nicht wertschätzten, es beseitigten und sich nicht bemühten, dessen Segnungen zu verstehen – und stattdessen weltlichen Königen den Titel des Kalifen verliehen – wurden ihnen die Segnungen des wahren Kalifats verwehrt. Nun ist es die Aufgabe unserer Gemeinde, diesen Fehler und diese Nachlässigkeit zu korrigieren und dafür zu sorgen, dass das Ahmadiyya-Kalifat so fest gegründet wird, dass bis zum Jüngsten Tag kein Feind es zu sabotieren wagt – und dass die Gemeinde durch ihre Spiritualität, ihre Einheit und Organisation die ganze Welt in die Obhut des Islam bringt.
Zweifellos, wie ich bereits erwähnt habe, schreitet die Welt unaufhörlich voran, und in jeder Epoche halten die Menschen sich selbst für fortschrittlicher als die Generationen vor ihnen. Die Menschen kommen und gehen, wie es für sie bestimmt ist, und jedes Mal, wenn eine Generation vergeht, hört man die Frage: „Was wird jetzt geschehen?“ Doch kaum ist ein Jahrhundert vergangen, da behaupten die Menschen bereits, sie seien klüger, und die vorherigen Generationen hätten nichts von den wahren Wissenschaften verstanden. So werden diejenigen, von denen einst gesagt wurde, dass ohne sie nichts möglich sei, von den Nachfolgenden quasi als töricht und unwissend abgetan.
Eine spirituelle Verbindung funktioniert jedoch ganz anders: Hier kann niemand den anderen dumm rufen, noch lässt diese Verbindung jene Art der Verzweiflung entstehen, die nach dem Abbruch einer physischen Verbindung entsteht. Es steht außer Frage, dass ein Mensch, der eine Beziehung zu Gott aufgebaut hat, Trauer empfinden kann, doch Verzweiflung wird in seinem Herzen niemals entstehen. Trauer ist etwas, was von Allah als notwendig für das spirituelle Wachstum in dieser Welt erklärt wurde. Es gibt zwei Formen der Treue, die Gott erfordert: Die Treue zu Ihm selbst und die Treue zu den Menschen. Wer keine Trauer für seine Mitmenschen empfindet, dem wird das als Illoyalität gegenüber seinen Mitmenschen ausgelegt; und wer in Verzweiflung verfällt, dem wird Illoyalität gegenüber Gott zugeschrieben. Aus diesem Grund sagte der Heilige Prophet (saw) einmal:
›Die Augen vergießen Tränen und das Herz ist betrübt, doch wir sagen nur das, was unser Herr uns befiehlt.‹[6]
Während der Mensch also in dieser Welt auch viele Freuden erlebt, sollte er sich stets bewusst sein, dass all diese Freuden vergänglich sind. Er sollte versuchen, jene wahre Verbindung aufzubauen, die den Tod aufhebt. Der Tod bedeutet nämlich nur dann wirklich Tod, wenn der Mensch glaubt, von etwas beraubt worden zu sein, für das es keinen Ersatz gibt. In der Spiritualität jedoch besteht die wahre Beziehung des Menschen zu Gott, und diese Verbindung kann nicht abbrechen, solange man sich nicht dem Satan zuwendet. Deshalb kann der Tod eines Menschen ihn nicht von seinem Geliebten trennen. Ebenso verfällt er nicht in Verzweiflung, wenn seine Freunde oder Angehörige körperlich sterben, denn er weiß: Diese Trennung ist nur vorübergehend. Es wird der Tag kommen, an dem wir einander wieder begegnen. Wenn der Mensch jedoch keine Beziehung zu Gott hat, erscheint für ihn jeder Tod, jede Entfernung, jede Trennung als endgültig, und sein Herz verfällt in eine endlose Spirale aus Verzweiflung und Dunkelheit.«
(Al-Fazl, 24. Mai 1960.)
Anwār al-ʿUlūm, Bd. 17, S. 335–346.
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FUSSNOTEN
- »Und Josef kam ja vordem zu euch mit deutlichen Beweisen, jedoch ihr hörtet nicht auf, im Zweifel zu sein über das, womit er zu euch kam, bis ihr dann, als er starb, sprachet: „Allah wird nimmermehr einen Gesandten erstehen lassen nach ihm.“ Also erklärt Allah jene zu Irrenden, die maßlos (und) Zweifler sind« – Der Heilige Qur’an, 40:35
- Ali Ibn al-Athīr, Usd al-ghāba, Bd. 3 (Riyadh, Saudi Arabia), S. 221.
- Sharh Diwan Hassan bin Thabit (Karachi, Pakistan: Araam Bagh), S. 221.
- Hadhrat Mirza Ghulam Ahmad (as), Das Testament, S. 23
- »Verheißen hat Allah denen unter euch, die glauben und gute Werke tun, dass Er sie gewisslich zu Nachfolgern auf Erden machen wird, wie Er jene, die vor ihnen waren, zu Nachfolgern machte; und dass Er gewisslich für sie ihre Religion festigen wird, die Er für sie auserwählt hat; und dass Er gewisslich ihren (Stand), nach ihrer Furcht, in Frieden und Sicherheit verwandeln wird: Sie werden Mich verehren (und) sie werden Mir nichts zur Seite stellen. Wer aber hernach undankbar ist, das werden die Empörer sein.« – Der Heilige Qur’an, 24:56. [Hrsg.]
- Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, kitāb al-ǧanāʾiz, bāb qaul ann-nabī: innā bika la-maḥzūnūn, Hadith Nr. 1303.
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