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Der wirtschaftliche Sinn der Religion: Religionsökonomin Dr. Sriya Iyer im Interview

'Es ist durchaus richtig, dass Ökonomie und Religion auf den ersten Blick nicht wie Fächer wirken, die auf natürliche Weise zusammengehören.'

Die Ökonomie wird manchmal als eine schwierige Wissenschaft mit harten Zahlen dargestellt. Aber wenn es in der Ökonomie um Menschen geht, dann muss es um die kollektive Weisheit, unsere Überzeugungen und Wertesysteme genauso gehen wie um die Zahlen, Statistiken und mathematischen Kurven. So sind wir auf die Arbeit von Dr. Sriya Iyer gestoßen, einer Professorin, welche die sogenannte »Religionsökonomie« lehrt.

Dr. Sriya Iyer ist Dozentin an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und Mitglied des St. Catharine’s College. Sie hat einen BA (Hons) in Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Delhi und anschließend einen BA, MA, MPhil und PhD in Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Cambridge absolviert. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Entwicklungsökonomie, Religionsökonomie, Gesundheit und Bildung. In den letzten zehn Jahren hat Sriya dazu beigetragen, ein neues Forschungsgebiet namens Religionsökonomie zu entwickeln, in dem sie ökonomische Methoden zur Untersuchung von Religion einsetzt. Sie hat drei Bücher sowie zahlreiche Artikel in führenden Fachzeitschriften veröffentlicht. Außerdem ist sie Mitglied in den Redaktionsausschüssen zahlreicher Zeitschriften; sie war stellvertretende Vorsitzende der Royal Economic Society Annual Conference 2020 und organisierte 2017 einen Runden Tisch der International Economic Association zum Thema »The Economics of Religion« in Cambridge. Im Jahr 2014 wurde Sriya mit dem University of Cambridge Pilkington Preis für exzellente Lehre ausgezeichnet.

The Review of Religions interviewte sie, um sie über dieses Forschungsgebiet zu befragen, warum sie denke, dass Religion für die Wirtschaft wichtig ist, und ob Religion und Glück korrelieren. Im Folgenden finden Sie das Transkript eines Gesprächs zwischen Sriya Iyer und Ahmed Danyal Arif, Redakteur des Wirtschaftsteils von The Review of Religions.

ADA: Zu Beginn möchte ich Sie fragen, Professor Iyer, was bedeutet »Religionsökonomie« und was hat Sie dazu inspiriert, auf diesem Gebiet zu forschen?

SI: Die Religionsökonomie ist ein Teilgebiet der Wirtschaftswissenschaften, das erforscht, wie ökonomische Theorien und statistische Werkzeuge genutzt werden können, um die Rolle der Religion in der Gesellschaft zu untersuchen. Sie kann untersuchen, wie sich religiöse Gruppen im Laufe der Zeit entwickeln, oder die wirtschaftlichen und sozialen Charakteristika von einzelnen Mitgliedern verschiedener Religionen. Heute umfasst es ein breites Spektrum an Bereichen wie Bildung, demografische oder Beschäftigungsunterschiede nach religiösen Gruppen, wie Religionen Versicherungsmechanismen in Entwicklungskontexten bereitstellen, die Wahrscheinlichkeit von religiösem Wettbewerb und religiösen Konflikten sowie allgemeinere Auswirkungen von Religion auf die körperliche und geistige Gesundheit sowie das Wohlbefinden.

Mein Interesse an diesem Forschungsgebiet wurde schon früh in meiner akademischen Laufbahn geweckt, als ich mich für die Erforschung der Vielfalt wirtschaftlicher Ergebnisse interessierte, insbesondere in Bezug auf Demografie, Bildung und Gesundheit. Ich wollte mehr über die Ursachen und Folgen der religiösen Vielfalt in Indien herausfinden und untersuchte zunächst die Religionsökonomie in dieser Gesellschaft. Später habe ich mich auch mit anderen Ländern beschäftigt, sowohl mit Industrieländern als auch in den Entwicklungsländern. Ich finde, die Religionsökonomie ist ein wirklich faszinierendes Feld, das sowohl akademisches Interesse weckt als auch eine große politische Relevanz hat.

ADA: Man könnte argumentieren, dass die Idee, die Fachgebiete »Wirtschaft« und »Religion« zu kombinieren, wie eine Aporie klingt. Warum ist das so? Warum erscheint diese Verbindung scheinbar zweifelhaft?

SI: Es ist durchaus richtig, dass Ökonomie und Religion auf den ersten Blick nicht wie Fächer wirken, die auf natürliche Weise zusammengehören. Bei ökonomischen Modellen geht es schließlich darum, Annahmen darüber zu treffen, wie Individuen rational handeln und rationale Entscheidungen auf der Grundlage ihrer Anreize und Zwänge in der realen Welt treffen, während es bei der Religion sehr stark um das Metaphysische, das Spirituelle, das Jenseitige geht, und bestimmte religiöse Überzeugungen oder Glaubensrichtungen mögen manchen sogar irrational erscheinen. Es kann also schwierig sein, sich vorzustellen, Religion und Ökonomie zusammen zu studieren, oder sogar darüber nachzudenken, wie man ökonomische Ideen anwenden kann, um das religiöse Leben zu studieren.

Doch je intensiver ich mich mit dieser Disziplin befasst habe, desto mehr habe ich verstanden und zu schätzen gelernt, dass die Ökonomie mit ihrer Betonung von Abwägungen zwischen unbegrenzten Bedürfnissen und begrenzten Ressourcen, Anreizen oder Wettbewerbseffekten durchaus Relevanz für das Studium der Religion hat. Grundsätzlich fördern alle Religionen den Glauben, Altruismus und Dienst. Da sie aber in funktionierenden Volkswirtschaften und Gesellschaften praktiziert werden, interagieren auch die Religionen mit den Institutionen und der Politik, ob wirtschaftlich oder nicht, auf die sie treffen. Das Studium dieser tieferen Wechselwirkungen rückt dann die Bedeutung ökonomischer Konzepte und Ideen für das Studium breiterer sozialer Phänomene wie der Religion in den Mittelpunkt, und das scheint mir ein lohnenswertes Unterfangen zu sein.

ADA: Welches Licht kann die Ökonomie auf die Religion werfen? Ist es nicht – allgemein gesprochen – das Gegenteil?

SI: Ich denke, die Wirtschaftswissenschaften verfügen über Instrumente, die nützlich sein können, um entweder die sozioökonomischen Merkmale einzelner Mitglieder verschiedener Religionen zu untersuchen; oder sie können Theorien anbieten, die erhellen, wie sich religiöse Organisationen entwickeln oder wie sich religiöse Überzeugungen im Laufe der Zeit verändern. Gleichzeitig lehrt uns die Ökonomie auch viel über Anreize und Wettbewerb, so dass sie auch Licht auf den Wettbewerb zwischen religiösen Gruppen, religiöse oder andere Arten von Konflikten im Allgemeinen werfen kann.

Einige der jüngsten Forschungsarbeiten zur Religionsökonomie haben sich mit der Frage befasst, wie Religionen die Zusammenarbeit fördern können, wie dies die Entwicklung von Märkten beeinflussen kann, wie das Wissen über die Zusammensetzung religiöser Bevölkerungsgruppen uns darüber informiert, »was in der Politik funktioniert und was nicht«, wie die Bereitstellung öffentlicher Güter das Auftreten religiöser Konflikte verringern kann und viele weitere Forschungsbereiche. Meiner Meinung nach wird diese Forschung immer wichtiger und überzeugender, je mehr Daten wir über religiöse Bevölkerungsgruppen auf der ganzen Welt sammeln. Die Ökonomie ist ein breit gefächertes Fach, das mit vielen anderen sozialwissenschaftlichen und anderen Disziplinen interagiert, und die Religionsökonomie zeigt sehr deutlich, dass eine breitere Auseinandersetzung mit anderen Fächern und mit der Gesellschaft, als wir vielleicht denken, unerlässlich ist, um die Probleme von heute zu verstehen und zu lösen.

ADA: In Ihrer Arbeit sprechen Sie über die religiösen wie auch nicht-religiösen Leistungen für die Realwirtschaft. Können Sie bitte einige Beispiele näher erläutern? Ist der Einfluss der Religion im Allgemeinen positiv oder negativ?

SI: Ich denke, wenn man sich die Entwicklung von Gesellschaften im Laufe der Zeit ansieht, entweder historisch oder eher zeitgenössisch, war die Rolle der Religion ziemlich wichtig, um einige wirtschaftliche Aspekte des Fortschritts zu beeinflussen – zum Beispiel durch die Förderung der Alphabetisierung, um die Schriften zu lesen, was die Menschen dann auch mit wissenschaftlichem und anderem Denken in Berührung bringt. In der Folge wirkte sich dies auf Faktoren wie die Einstellung zum Sparen, zum Risiko oder zur unternehmerischen Tätigkeit aus. So hat Adam Smith die Rolle der Religion und des religiösen Wettbewerbs im Zusammenhang mit wirtschaftlichem Handeln erkannt und diskutiert. Religion ist auch eine wichtige Form der Netzwerkbildung, was bedeutet, dass soziale Gruppen, die auf der Basis von Religion organisiert sind, über dieses Netzwerk einen Einfluss haben können, der dann wirtschaftliche Entscheidungen von Individuen oder von Gemeinschaften beeinflussen kann. Darüber hinaus sind diese auf der Basis von Religion organisierten Gruppen manchmal deshalb wirksam, weil sie sowohl in den Augen der Massen als auch des Staates Legitimität besitzen können. Dies macht es möglich, dass die Religion die Wirtschaftstätigkeit beeinflusst, aber es macht es auch sehr wichtig, dass diese Rolle verantwortungsvoll wahrgenommen wird.

Was die Dienstleistungen angeht, so bieten alle religiösen Organisationen natürlich glaubensbasierte Dienstleistungen an, die für die Ausübung der Religion oder das Wohlergehen der Gläubigen wichtig sind, aber sie bieten auch Wohlfahrtsdienste in Bezug auf Bildung, Gesundheit, Lebensmittelverteilung, Kinderbetreuung, Beschäftigungsmöglichkeiten und andere Dienstleistungen an. Dies ist wichtig in Gesellschaften, in denen die staatliche Bereitstellung dieser grundlegenden Dienste möglicherweise nicht alle Teile der Bevölkerung erreicht; oder die Qualität der Dienste verbessert werden muss. In meiner eigenen Forschung zu Indien zum Beispiel, die ich in meinem Buch The Economics of Religion in India (Harvard University Press 2018) beschreibe, gehe ich auf diese Dienstleistungen im indischen Kontext ein und berühre auch den religiösen Wettbewerb in diesem Bereich. Insgesamt denke ich, dass der Einfluss der Religion positiv sein kann, obwohl, wenn dies zu übermäßigem Wettbewerb oder Konflikten um öffentliche Güter führt, dies auch nicht unbedingt ein Vorteil für die Wirtschaft oder für die Menschen sein kann.

ADA: Soweit ich weiß, zeigt die Forschung, dass wohlhabende Länder mit einigen wenigen Ausnahmen dazu neigen, weniger religiös zu sein, während ärmere Länder dazu neigen, religiöser zu sein. Als die Coronavirus-Pandemie begann, haben einige Studien gezeigt, dass eine größere Anzahl von Menschen begann, sich der Religion zuzuwenden, um mit Gefühlen von Angst und Hoffnungslosigkeit fertig zu werden. Stimmen Sie dieser Feststellung zu? Und denken Sie, dass die enormen wirtschaftlichen Verluste auf der ganzen Welt, der Anstieg der Ungleichheit und die darauf folgende wirtschaftliche Rezession eine Rolle bei diesem Interesse gespielt haben?

SI: Ich denke, es ist richtig zu sagen, dass die entwickelte Welt zwar im Laufe der Zeit säkularer geworden ist, die Welt insgesamt aber religiöser geworden ist. Ich glaube auch, dass nach dem Ausbruch des Coronavirus, als die Ungewissheit um diese Krankheit anfangs zunahm und es keine wirksame Behandlung gab, sich viele auf der ganzen Welt der Religion zugewandt haben, um Trost zu finden, in Zeiten der Not, oder auch, wenn sie liebe Verwandte oder andere Menschen durch die Krankheit verloren haben. Wir haben eine Zunahme der Religiosität als Folge davon beobachtet, vielleicht auch deshalb, weil Lockdowns und andere Maßnahmen den persönlichen Besuch von Gottesdiensten unmöglich gemacht oder durch Online-Dienste ersetzt haben. Im Laufe der Zeit, als die Beschränkungen der Bewegungsfreiheit nachgelassen haben und Gotteshäuser geöffnet wurden, wird auch dies die Religiosität beeinflusst haben. Jetzt, da wirksame Behandlungsmittel gegen das Coronavirus gefunden wurden, könnten die Angst und die Unsicherheit der Bevölkerung abnehmen. Ich vermute, dass der Anstieg der wirtschaftlichen Unsicherheit, der durch das Virus verursacht wurde, und seine Auswirkungen auf den Konsum, das Arbeitskräfteangebot, das Humankapital und andere makroökonomische Faktoren ebenfalls die Entwicklung der Religiosität beeinflusst haben. All dies muss natürlich in den nächsten Jahren noch viel genauer untersucht werden. Derzeit führe ich mit Koautoren eine Studie über die Auswirkungen von Covid-19 auf die Religion in den USA durch, wobei ich mich besonders auf die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Menschen konzentriere, und es wird für uns interessant sein zu sehen, was die Ergebnisse dieser Studie aussagen, wenn sie abgeschlossen ist. 

ADA: Während ich dieses Interview vorbereitete, erinnerte ich mich an ein Buch, das ich vor einigen Jahren gelesen habe. Es war ein Buch des Ökonomen Bruno Frey über die »Ökonomie des Glücks« (Happiness: A Revolution in Economics, MIT Press, 2008). In diesem Buch listet Bruno Frey die wesentlichen Elemente für ein glückliches Leben auf, die durch eine Umfrage des »New Scientist« ermittelt wurden. Darunter auch eines, das besagt: »Seien Sie religiös, oder glauben Sie an ein anderes System. Der Glaube an Gott und ein Leben nach dem Tod gibt den Menschen Sinn und Zweck und reduziert das Gefühl, allein zu sein. Religion dient daher als mächtiger Weg, mit Widrigkeiten umzugehen.« Würden Sie dem zustimmen? Denken Sie, dass es mit Ihren Beobachtungen oder den Ergebnissen Ihrer eigenen Forschung übereinstimmt?

SI: Das ist eine interessante Frage. Ich denke, dass es für Menschen wichtig ist, einen Glauben zu haben – für einige möge dieser religiös sein; für andere kann es ein allgemeineres Interesse an Spiritualität sein oder etwas völlig Nicht-Religiöses. Es hängt sehr von der Person ab, wie sie erzogen wurde, von den Institutionen um sie herum und davon, was sie in Bezug auf das Erreichen von Glück sucht. Ich denke, wir alle müssen einen Weg finden, um mit Widrigkeiten, Stressfaktoren verschiedener Art oder wirtschaftlicher Unsicherheit fertig zu werden. Für einige mag dieser Weg eine tiefe religiöse Überzeugung und Praxis beinhalten; für andere mag er etwas anderes beinhalten, wie z.B. gemeinnützige Arbeit, die mit einem bestimmten Glauben verbunden sein kann oder auch nicht. In meiner Forschung sowohl in Entwicklungsländern als auch in Industrieländern sehe ich einen positiven Zusammenhang zwischen Religion, psychischer Gesundheit und Wohlbefinden. Aber ich habe auch das Gefühl, dass zu diesem wichtigen Thema noch viel mehr Forschung betrieben werden muss, um zu verstehen, was die Menschen bei ihrer Suche nach endgültigem Glück und Zufriedenheit antreibt.

Deutsche Übersetzung von Manan Wagishauser. Der englische Artikel kann hier gelesen werden.

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