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Deutschland, unser wirkliches Problem ist nicht …

... der Islam. Sind Muslime am Antisemitismus in Deutschland schuld? Medien wie die Bild-Zeitung haben mit ihren Suggestiv-Schlagzeilen Unrecht.

von Scharjil Khalid

*dieser Artikel wurde ursprünglich für die Berliner-Zeitung verfasst. Mit ihrer freundlichen Genehmigung wird er hier für die Leserinnen und Leser der Revue der Religionen nochmals veröffentlicht.

„Deutschland, wir haben ein Problem!“ – So titelte die Bild-Zeitung kürzlich bei der Veröffentlichung ihres Manifests. 50 Punkte, wovon die meisten von antimuslimischen Suggestivsätzen geprägt sind, setzen Muslime pauschal unter Generalverdacht. Alles ganz typisch im Boulevard-Stil, eben wie wir es von der Bild gewohnt sind. In einem Punkt muss man der Bild jedoch zustimmen: Wir haben ein Problem! Ein Problem, Debatten differenziert und sachlich zu führen. Ein Problem, wirkliche Ursachen für Konflikte zu benennen. Ja, ein Problem, Gerechtigkeitsmaßstäbe einzuhalten.

Immer wieder wird dieser Tage von einem „importierten“ Antisemitismus durch muslimische Migranten gesprochen, der scheinbar die treibende Kraft des Antisemitismus in Deutschland darstelle, als seien Muslime aufgrund ihrer Religion von Natur aus antisemitisch. Jens Spahn schlägt vor, einen Antisemitismus-Test für muslimische Verbände einzuführen. Das Narrativ des antisemitischen Muslims wird weitergesponnen und die Stigmatisierung von Muslimen eklatant vorangetrieben – und das nicht erst seit dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober.

Synagogen sollen als Gotteshaus geschützt werden

Inmitten dieser Debatte scheinen die Worte des jüdischen Genies Albert Einsteins aktueller denn je: „Es ist einfacher, einen Atomkern zu spalten als ein Vorurteil.“ Es ist höchste Zeit, im Sinne Einsteins die Vorurteile gegenüber Muslimen zu „spalten“, den Blick zu weiten und zu erörtern, wie das Verhältnis zwischen Islam und Antisemitismus wirklich ist.

Wenn wir den Islam hinsichtlich Antisemitismus untersuchen wollen, sind in erster Linie die drei wesentlichen theologischen Quellen heranzuziehen: der Qur’an, die Sunna und die Ahadith.

Im heiligen Buch aller Muslime, dem Qur’an, wird jüdisches Leben so hochgeschätzt und geehrt, dass den gläubigen Juden großer Lohn von Allah versprochen wird (2:63). Die Thora wird als heilige Schrift der Juden als eine Richtschnur und als Rechtleitung für die Menschen beschrieben (3:4&5). Ferner weist der Islam als abrahamitische Religion die Muslime an, unter allen Umständen die Synagogen als Gotteshaus ihrer jüdischen Glaubensgeschwister zu schützen (22:41). Daher verwundert es nicht, dass in der Sunna und den Überlieferungen des Heiligen Propheten Muhammad(saw) – dem Gründer des Islam – die geschwisterliche Beziehung zu Juden mehrfach ausdrücklich erwähnt wird. So war einer der ersten Akte des Heiligen Propheten Muhammad(saw) nach seiner Ankunft in Medina, einen Vertrag mit den Juden zu schließen, worin Muslime und Juden als eine „Umma“ bezeichnet werden.1 Kein Ausdruck hätte das geschwisterliche Verhältnis zwischen Juden und Muslimen besser beschreiben können als der arabische Begriff „Umma“, der für eine innige Gemeinschaft steht.

Der Qur’an vermittelt anekdotisch moralische Prinzipien

Kritiker werden womöglich einwenden, was mit den Versen sei, die Juden kritisieren und von vielen als Ursprung des muslimischen Antisemitismus gesehen werden. Hier wird jedoch übersehen, dass der Heilige Qur’an nicht nur ein normatives Werk ist, sondern viele historisch-empirische Bezüge enthält. Die Verse, in denen Juden kritisiert werden, haben einen spezifischen historischen Kontext und sind keine Pauschalurteile. Sie rügen moralische Laster einiger weniger Juden, nicht das Judentum per se. Im Gegenteil: Diese moralischen Laster sind laut Koran Resultat der Missachtung jüdischer Gebote. Allein der folgende Vers zeigt unmissverständlich, wie sauber der Heilige Qur’an die zwei Ebenen trennt:

„Sie sind nicht (alle) gleich. Unter dem Volke der Schrift ist eine Gemeinde, die fest (zu ihrem Vertrag) steht; sie sprechen Allahs Wort in den Stunden der Nacht und werfen sich nieder (vor Ihm).“ (3:114)

Interessanterweise richtet der Heilige Qur’an ähnliche Kritik sogar an bestimmte Muslime, die wegen ihrer moralischen Laster als Bewohner des tiefsten Feuergrunds beschrieben werden (4:146). Ist der Heilige Qur’an jetzt dadurch muslimfeindlich? Gewiss nicht. Wie alle heiligen Schriften vermittelt auch der Qur’an anekdotisch moralische Prinzipien, indem verschiedene Völker und Gemeinschaften sowohl als Positiv- als auch Negativbeispiele illustriert werden.

Die Eroberung Jerusalems durch die Muslime

Betrachtet man den Heiligen Qur’an wie es ihm gebührt, in seiner Ganzheit als ein kohärentes Werk, ist kein anderer Schluss zulässig, als die islamische Theologie als zutiefst menschen- und in diesem Fall judenfreundlich anzuerkennen. Deshalb waren die Muslime zu der Zeit des Frühislam allen Religionen außerordentlich wohlgesonnen, weil sie sich im Gegensatz zu vielen heutigen Muslimen, der philanthropischen Theologie des Islam gewahr waren. Im Einklang mit dem Vers „O Volk der Schrift, kommt herbei zu einem Wort, das gleich ist zwischen uns und euch“ (3:65) lebten sie in Regionen wie Bagdad und Al-Andalus mehrere Jahrhunderte friedlich mit anderen Religionsgemeinden zusammen. Auch rückblickend gilt jene Zeit als goldenes Zeitalter der Toleranz, in dem die Zusammenarbeit zwischen Muslimen, Juden und Christen eine kulturelle und wissenschaftliche Blütezeit hervorbrachte.2

Besonders erwähnenswert ist im Zuge des aktuellen Nahost-Kriegs die Eroberung Jerusalems durch die Muslime. Als die Muslime 637 n. Chr. angeführt vom zweiten Kalifen Umar (ra) in Jerusalem eintrafen, erkundigte sich der zweite Kalif (ra) als erstes nach dem Tempelberg und den Juden. Ihm wurde mitgeteilt, dass der Felsen auf dem Tempelberg mit Abfall bedeckt war und die Juden von den Byzantinern getötet oder vertrieben wurden. Der Kalif (ra) war zutiefst betrübt über diese Nachricht und begab sich sofort zum Felsen. Dort angekommen säuberte er eigenhändig den Felsen von Schmutz und Unrat und trug den Abfall in seinem Mantel fort. Gibt es ein stärkeres Bekenntnis für die Zuneigung zum Judentum, als den heiligen Ort der Juden und ihre Gebetsrichtung eigenhändig zu säubern, und das als Herrscher eines großen Reiches? Doch damit nicht genug: Der Kalif (ra) wies die Muslime an, Juden zurück in ihr heiliges Land zu bringen und sie zu fragen, wo genau sie in Jerusalem leben wollten.3 Das ist die kausale Folge islamischer Bildung und nicht die heutigen politischen Aktionen, die lediglich religiös instrumentalisiert werden.

Muslimischer Antisemitismus entwickelte sich spät

Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass es gewisslich antisemitische Muslime gibt. Auch hier ist zunächst ein geschichtlicher Exkurs notwendig, um zu verstehen, wie sich Antisemitismus unter Muslimen entwickelte.

Für die Verfasser des Bild-Manifests mag es überraschend klingen, aber Historiker sind sich einig, dass sich der Antisemitismus in der muslimischen Welt im Vergleich zum christlichen Europa „spät“ entwickelte. Paradoxerweise führen die Spuren zurück nach Europa, weshalb einige Historiker behaupten, dass der europäische Antisemitismus als koloniales Erbe in die muslimischen Länder exportiert wurde.4

Während man sich im mittelalterlichen Europa mit schweren antisemitischen Anschuldigungen und Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung richtete, erlebten Juden in muslimischen Reichen weitgehend friedliche Zeiten. Der erste antisemitische Vorfall in den muslimischen Ländern ereignete sich „erst“ 1840 in Damaskus, als ein katholischer Mönch verschwand und die Juden für seine Entführung beschuldigt wurden. Initiiert wurde dieser Vorwurf nicht von einem arabischen Muslim, sondern vom französischen Konsul, der dieses Ereignis nutzte, um in Damaskus antisemitische Narrative zu verbreiten.5
Peter Wien, Professor für Geschichte des modernen Nahen Ostens an der University of Maryland in College Park, schreibt hierzu treffend:

„Im Islam gibt es keinen traditionellen, religiös oder rassistisch begründeten Antisemitismus. […] Ohne die koloniale Unterwerfung der arabischen Welt im 19. und 20. Jahrhundert ist die Verbreitung antisemitischen Gedankenguts auch in anderen islamischen Ländern kaum denkbar.“6

Ergo ist muslimischer Antisemitismus ein Produkt des Westens, gleichwohl rechtfertigt dies mitnichten den heute in vielen muslimischen Ländern verbreiteten Antisemitismus. Nichts rechtfertigt Hass und Menschenfeindlichkeit, das ist die unmissverständliche Botschaft des Heiligen Qur’an, die durch das Motto der Ahmadiyya Muslim Jamaat „Liebe für alle – Hass für keinen“ verdeutlich wird.

Deutschland, wir haben ein Problem

Dennoch ist es wichtig, die heutigen Gegebenheiten historisch korrekt einzuordnen und kausale Zusammenhänge klar zu skizzieren, was in den hiesigen Debatten oft zu kurz greift. Nicht die islamische Theologie und Geschichte ist für muslimischen Antisemitismus entscheidend, sondern die historisch-politischen Entwicklungen im 19. und zuvörderst 20. Jahrhundert.

Damit sind wir beim heutigen Konflikt, der wesentlich zum antisemitischen Klima in Deutschland und der Welt beiträgt. Aktuelle Daten aus Deutschland zeigen, dass israelbezogener Antisemitismus unter Muslimen verbreiteter ist als in der Gesamtbevölkerung. Bei anderen Ausprägungen des Antisemitismus ist die Datenlage jedoch deutlich fluktuierender, wie z.B. beim sekundären Antisemitismus, bei dem die Einstellungswerte von Muslimen niedriger sind als beim Durchschnitt.7 Betrachtet man antisemitische Straftaten gemäß der polizeilichen Kriminalstatistik, so waren 2021 von allen Fällen 84,31 % rechtsextremistisch motiviert. Jetzt kommt die Krux der Debatte: Von all den antisemitischen Straftaten werden „lediglich“ 1,88 % als religiös ideologisch eingestuft.8 Eine interessante Analogie ist bei den Zahlen zu Muslimfeindlichkeit festzustellen, wo von allen islamfeindlichen Straftaten 92 % von Rechtsextremisten verübt wurden.9

Daraus ergeben sich zwei wichtige Erkenntnisse. Erstens: Der „importierte“ Antisemitismus stellt trotz gängiger polemischer Rhetorik nicht die primäre Bedrohung dar. Zweitens: Die wahre Gefahr für das jüdische als auch muslimische Leben in Deutschland ist der Rechtsextremismus.

Wenn Medien und Politik Muslime weiterhin in Sippenhaft nehmen und unter Generalverdacht stellen, wird das tatsächliche Bild verzerrt und von der eigentlichen Gefahr abgelenkt. Deswegen soll es nicht „ja, aber“ heißen, sondern „ja, und“.

Folglich können wir die herausfordernden innenpolitischen Spannungen nicht lösen, wenn wir den Nahostkonflikt religiös untermalen und Juden gegen Muslime ausspielen. Beide sind der gleichen Gefahr ausgesetzt, beide sind Zielscheibe rechtsextremer Gewalt. Vor allem lösen wir den Konflikt nicht, wenn wir jegliche Kritik an der Politik Israels und den Einsatz für palästinensisches Leben als antisemitisch brandmarken. Dadurch verhärten wir nur die Fronten, verschleiern die eigentlichen Probleme, frustrieren die Wahrheitsliebenden und stärken die Extremisten.

Kein Problem ohne Lösung

Wie lösen wir nun die gegenwärtigen Probleme? Welcher Ansatz packt das Problem an der Wurzel? Viel wird in kognitive Bildung investiert, wenig in geistige Herzensbildung. Was wir brauchen, ist eine neue Mythologie des Zusammenhalts, eine neue Ethik, die mit einem philanthropischen Habitus die Liebe zu Gott an die Liebe zum Menschen knüpft. Wir brauchen eine Ethik, wie sie von den deutschen Romantikern Hegel, Hölderlin und Schlegel sehnsüchtig erwartet wurde. Wir brauchen eine Ethik, die in den Menschen die „Mutterliebe“ weckt, infolge derer wir ein israelisches Leben genauso schätzen wie ein palästinensisches Leben, ja das Leben aller Menschen.

Deutschland, wir haben ein Problem! Ein Problem, weil wir diese Ethik nicht erkennen.


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über den Autor:
Scharjil Khalid ist 29 Jahre alt und hat am ersten Imam-Institut Deutschlands – der Jamia Ahmadiyya – islamische Theologie studiert. Seit 2021 ist er als Imam in Berlin tätig und in der Öffentlichkeitsarbeit der islamischen Reformgemeinde Ahmadiyya Muslim Jamaat aktiv.

Quellen:
1 A research evalution of text narrated in Treaty of “Meesaq e Madina” (prdb.pk)
2 Die goldene Zeit in Andalusien: Hochblüte der Kultur und der Toleranz (prisma.de)
3 Jerusalem: An Ancient City of Harmony | The Review of Religions
4 https://www.deutschlandfunk.de/ns-und-naher-osten-exportierter-antisemitismus-100.html
5 Islamischer Antisemitismus | Antisemitismus | bpb.de 
6 Islam & Antisemitismus: Judenhass ist keine Tradition – Kultur – SZ.de (sueddeutsche.de)
7 https://mediendienst-integration.de/desintegration/antisemitismus.html#c411
8 Antisemitismus unter Muslimen: Mehr Judenhass, weniger Holocaust-Leugnung – DER SPIEGEL
9 Fünf Jahre Erfassung islamfeindlicher Straftaten in der polizeilichen Kriminalstatistik – AIWG – Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft 

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