Die Revue der Religionen führte ein Interview mit Herrn Abdullah Wagishauser, dem Bundesvorsitzenden der Ahmadiyya Muslim Deutschland, über den Umgang der Gemeinde mit der aktuellen Covid-19-Pandemie.
Der Monat Ramadan steht kurz vor Ende. Inwiefern war der diesjährige Ramadan in dieser Corona-Zeit anders als in den vergangenen Jahren und wie haben Sie ihn erlebt?
Im Namen Allahs des Gnädigen, des Barmherzigen. In der Tat war er anders. Er war definitiv anders, aber ich muss sagen einerseits war er intensiver, andererseits war es nicht möglich ihn ganz intensiv zu führen. Das möchte ich gleich am Anfang ansprechen. Ich konnte nicht in‘s Iʿtikāf gehen [Form des Gottesdienstes, sich in den letzten zehn Tagen des Ramadan in die Moschee zurückziehen]. Das ist etwas, was ich seit 10 Jahren im Ramadan in vollen Zügen genieße und das habe ich natürlich vermisst. Ich habe aber in der Corona-Zeit – was den Ramadan dieses Jahr so anders macht – oft das Gefühl gehabt, dass ich schon im Iʿtikāf bin, weil ich sehr viel zuhause bin, eben nicht in der Moschee. Man hat viel mehr Zeit den Qur’an zu lesen. Man hat viel mehr Zeit sich auch auf das Gebet zu konzentrieren. Da ich schon über 60 bin und zur sogenannten Risikogruppe zähle, bin ich zuhause geblieben und habe meine sämtlichen Gebete mit der Familie verrichtet, zumindest, wenn ich nicht in BS war, in der Regel jeden zweiten Tag. Das war schon das, was anders war und man konnte sich mehr auf das konzentrieren, was einem übrig blieb zu tun.
Die Corona-Krise hat das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben überall umgekrempelt. Inwiefern war das Gemeindeleben davon betroffen?
Für uns in der Jamaat war es schon eine Riesenumstellung. Viele unserer Aktivitäten leben davon, dass man zusammenkommt, gemeinsam betet, gemeinsam isst, bei den Gebeten Schulter an Schulter. Bei den Ijlas [Gemeindesitzung] sitzen wir eng zusammen auf dem Boden, sehr gesellig. All das, dieses soziale Miteinander, das war von heute auf morgen weg. Durch die Abstandsregelungen, am Anfang sogar durch die Schließung der Moscheen, waren wir schon gehandicapt in unseren Gemeinde-Aktivitäten, bis wir, und das ging ziemlich schnell, uns umgestellt hatten.
Wie hat man das kompensieren können?
Wir haben fast alles ins Netz verlegt. Sehr viele Veranstaltungen wurden Online gemacht. Wir haben Telefonkonferenzen, Webkonferenzen, Webseminare gemacht. Man hatte das Gefühl, dass Allah uns zwingt uns mehr in den sozialen Medien zu bewegen, dort mehr zu gestalten und noch mehr dort zu agieren. Die Ahmadiyya Muslim Jamaat ist jetzt schon eine der Gemeinden, die sich auf diesem Sektor auch jetzt schon sehr stark etabliert hat und wir haben seit Beginn der Krise das stetig ausgebaut. Man kann im Nachhinein sagen, dass wir eigentlich auf die wichtigsten Dinge nicht verzichten mussten. Wir haben Amila-Meetings [Vorstandssitzungen] und kleinere Ijlas [Sitzung] gemacht. Wir haben auf nationaler Ebene vor Kurzem den Masih-e Mau’udAS Tag [Tag des Verheißenen MessiasAS] gefeiert. Unser Arbeitsflow hat darunter nicht gelitten. Ich glaube schon, dass wir im sozialen Bereich etwas vermissen und dass wir gerne wieder zur Normalität zurückkehren würden, aber ich muss sagen, es war ein neues Kennenlernen von neuen Situationen und bis jetzt kann man sagen war es okay, es hat uns nicht geschadet, wir haben viel gelernt.
Welche besonderen Programme wurden den Gemeindemitgliedern (online) angeboten und haben sie auch Feedback darüber erhalten?
Es hat mich richtig begeistert, wie innovativ die verschiedenen Shobajaat [Abteilungen] gewesen sind, wie schnell sie umgeschaltet haben und alles ins Netz verlegt haben. Ich glaube, dieses Jahr sind so viele Dars [Lesungen und Vorträge] angeboten worden, wie kein anderes Jahr davor.
Ich habe auch sehr viele, schöne Briefe bekommen von Müttern, die nicht in den großen Zentren leben, wie hier im Rhein-Main Gebiet. Sie haben gesagt, sie würden solche Programme auch gerne nach dem Monat Ramadan weiter haben, damit ihre Kinder davon profitieren können.
Selbst unsere Hifz-Klasse [Auswendiglernen des Heiligen Qur’an] hat weiter funktioniert. Unser Online-Chanda-System, was wir schon lange vorher etabliert und hat jetzt durch diese Krise mächtig Zulauf bekommen. Die Jamaat war vor der Krise gut aufgestellt und wir haben uns flexibel an die neue Situation anpassen können.
Welche besonderen Maßnahmen hat die Gemeinde getroffen, um einer Ausbreitung des Virus entgegenzuwirken?
Wir hatten eine Vorlaufzeit. Wir hatten vor der Corona-Krise eine kleine Sicherheitskrise. Wir hatten die Anschläge in Hanau. Das hat uns dazu gebracht, ein Security-Komitee in allen Jamaats zu installieren, um auf diese neue Gefahrenlage zu reagieren. Wir waren nicht ganz erholt von diesen Anschlägen, als die Corona-Krise kam. Dann haben wir ein Health & Security-Komitee daraus gemacht. Diese Komitees wurden in allen Gemeinden deutschlandweit etabliert. Auf der Bundesebene haben wir zusätzlich eine Corona-Taskforce eingerichtet.
Man konnte so auf neue Richtlinien und Entscheidungen, die von der Bundesregierung kamen, immer schnell reagieren und das auch umsetzen. Ich muss sagen, ich bin sehr positiv überrascht gewesen, wie schnell wir die Moscheen schließen konnten und auch wie schnell es ging die Moscheen wieder aufzumachen.
Ich habe gerade gelesen, dass der Koordinationsrat und der Zentralrat der Muslime immer noch nicht das Juma-Gebet [Freitagsgebet] empfiehlt. Deren Moscheen sind am Jumma immer noch geschlossen. Auch das Id-Gebet findet nicht statt, weil sie das anscheinend organisatorisch nicht stemmen können.
Könnten Sie kurz auf die Öffnung der Moscheen eingehen. Wie hat sich dieser Prozess gestaltet?
Wir haben ja über die deutsche Islamkonferenz mit dem Innenministerium einen ständigen Draht. Wir haben einen Beauftragten für die deutsche Islamkonferenz, der bei den Gesprächen teilgenommen hat, wo es darum ging, wie die Moscheen sich bei der Wiedereröffnung einbringen könnten. Wir haben sehr gute Vorschläge einbringen können, die dann auch auf Bundes- und Landesebene teilweise mit in die Konzeption der BR eingeflossen sind. Manche Länder waren da weit fortgeschritten, andere weniger.
Also wir haben unsere Ideen einbringen können. Wir hatten überhaupt keine Probleme diese Abstandsregelungen, Desinfektionsregelungen und die allgemeinen Hygienemaßnahmen umzusetzen. Jeder Betende ist mit eigenem Gebetsteppich gekommen. Ich muss sagen, unsere Ahmadis waren sehr vorsichtig. Ich würde sogar sagen übervorsichtig und das ist besser als andersherum. Wir sind auch verhältnismäßig streng vorgegangen, indem wir gesagt haben, nur die 15-60-Jährigen dürfen in die Moschee, um diesen ganzen Problematiken mit den Älteren mit Vorerkrankungen aus dem Wege zu gehen. Im Nachhinein muss man sagen war das eine richtige Entscheidung. Wir sind von unseren Infektionszahlen in unserem Verhalten bestätigt worden. Täglich werden die aktuellen Infektionszahlen der Bundesrepublik und die aktuellen Infektionszahlen innerhalb der deutschen Jamaat an Hudhur-e-AqdasABA [Seine Heiligkeit] gemeldet.
Wie ist das ganze bei den Gemeinde-Mitgliedern angekommen, wie haben sie das aufgenommen? Mittlerweile gibt es bundesweit Proteste gegen die Corona-Maßnahmen.
Alle Reaktionen waren positiv. Ich dachte erst, dass viele sich sehr eingeschränkt fühlen würden, aber die meisten haben sehr positiv reagiert. Sie empfanden dabei ein gutes Gefühl, dass die Jamaat die Organisation übernommen hat und dann auch umsetzen konnte, also wir haben überall sehr disziplinarisches Verhalten erlebt.
Die Proteste erleben wir erst die letzten zwei Wochen. In der Jamaat [Gemeinde] habe ich davon gar nichts gehört. Es gab hier und da vielleicht mal junge Leute die mit diesen Verschwörungstheorien sympathisiert hatten, aber das haben wir dann auch gleich klären können. Wir haben die richtige Literatur zur Verfügung gestellt und so konnte alles gleich geklärt werden. Man kann wirklich sagen, dass die überwiegende Mehrheit der deutschen Jamaat geschlossen hinter Frau Merkel steht.
Welche Lehren ziehen Sie als Bundesvorsitzender aus dieser Corona-Krise für sich, aber auch für die Gemeinde?
Wir müssen festhalten, dass wir als Ahmadis in einer sehr komfortablen Situation sind, hervorgerufen durch das Khilafat-System. Wir haben einen Khalifa [Kalifen], der in schwierigen Situationen immer zur Stelle ist und die Dinge klärt. Natürlich muss man auch Eigeninitiative an den Tag legen, aber wir haben immer durch Hudhur-e-Aqdas [Seine Heiligkeit] (Möge Allah sein Helfer sein) eine Klärung erfahren, wir haben dadurch auch ein koordiniertes Vorgehen gehabt. D.h. die Jamaat [Gemeinde] ist solchen Krisen gewachsen. Das muss man eindeutig sagen. Diese Krise ist eine Zeit, wo man sehen kann, wie die Jamaat in Krisenzeiten arbeitet und man muss sagen, dass Hudhur-e-Aqdas (Möge Allah sein Helfer sein) uns lange Jahre auf so ein Szenario vorbereitet hat, auch was z.B. Lebensmittelreserven anbelangt. So waren all diese Dinge für die Jamaat nicht neu und ich glaube wir sind auf so etwas für die Zukunft eingestellt. Der interessante Punkt, der hier bei der Corona-Pandemie zutage getreten ist, ist das alle Menschen von dieser Krise betroffen sind und man wirklich davon ausgehen kann, dass die Welt nicht mehr so wird, wie sie einmal war. Auch wenn wir wieder zu dieser angeblichen Normalität zurückkommen, ich glaube alle Menschen haben unwahrscheinlich viel gelernt und das sollte für uns Ahmadis eine Chance sein, auch davon zu profitieren. Wir müssen jetzt mit der Hilfe Allahs die Welt einfach ein wenig schöner machen, indem man den Leuten jetzt noch einmal nachhaltig klarmacht, dass alle durch die Krise gemerkt haben, dass Wirtschaftswachstum, Reichtum und Materialismus und Konsum nicht alles sind. Der Materialismus ist eine sehr bröckelige Angelegenheit, die jederzeit zusammenbrechen kann. Es kommt eben auf andere Werte an, ein nachhaltiges Leben, Familie, Gesundheit, und natürlich Religion wird zukünftig wieder eine große Rolle spielen. Die Leute haben Zeit darüber nachzudenken, was das denn alles soll? Ich meine, wo wir herkommen, wohin wir gehen nach diesem Leben. Wir Ahmadis sollten wissen, das Islam auf alles Antworten hat. Diese Möglichkeit müssen wir nutzen. Wenn wir sehen, was in den Zeitungen heute an Artikeln zu lesen sind. Die Menschen machen sich doch Gedanken, wie es nach der Krise weitergehen kann. Man muss sich zum Beispiel mehr um hilfsbedürftige Menschen, ältere Menschen sorgen. Die Frage der Gerechtigkeit, der gerechten Verteilung wird eine größere Rolle spielen. Es müssen Systeme installiert werden, die es vorher so nicht gab, damit man erst gar nicht in so einer Krise geraten kann.
Können Sie einen kurzen Ausblick nach dem Ramadan geben? Am 27. Mai wird in der Gemeinde weltweit der Einführung des spirituellen Kalifats gedacht. Wie wird man diesen Tag dieses Jahr feiern?
Wir haben von Hudhur-e-AqdasABA die Genehmigung bekommen, dass wir einen nationalen Khilafat-Tag feiern können. Das wird wie eine kleine Jalsa [Versammlung] werden, inscha‘Allah. Es ist ein fast drei Stunden Programm geplant. Da freue ich mich schon jetzt darauf. Wir werden hier in Bait-us-Sabuh [Verwaltungszentrale] etwas zusammenstellen und es live übertragen, sodass die Mitglieder in ihren Häusern daran teilnehmen können. Aber auch lokale Jamaats, die so etwas für ihre eigene Jamaats machen wollen, werden dazu Gelegenheiten bekommen. Ich glaube, da wird auch wieder sehr viel im Netz los sein. Wir müssen jetzt langsam wieder darauf achten, unsere Moscheen wieder zu aktivieren und voll zu bekommen. Viele Ahmadis waren jetzt etwas zu vorsichtig, meine ich. Wir müssen jetzt auch mal schauen, wie wir wieder die Älteren mit in die Moschee einbeziehen können. Das ist schon ein sehr hartes Los für die älteren über 60, die ja meistens diejenigen waren, die vorher in die Moscheen gegangen sind und jetzt überhaupt nicht mehr in die Moschee kommen können. Da muss jetzt langsam wieder etwas verändert werden.
Was wäre Ihre Botschaft an unsere Leser?
Also meine Botschaft an die Jamaat wäre, dass so vieles, was wir in diesem neuen Corona-Ramadan, wenn ich das so ausdrücken darf, erlebt haben, fortzusetzen müssen: die Familien sind stark geworden. Kinder haben ihre Väter besser kennengelernt, Väter haben ihre Kinder besser kennengelernt. Die Zeit, die man für die Familie aufbringen konnte, dass die mehr oder weniger beibehalten wird, wenn es möglich ist. Dass man auch im Haus mehr spirituelle Aktivitäten hat als das Gebet, also mehr macht, den Qur’an liest, Bücher liest. All diese Aktivitäten haben die Jamaat sehr stark vorangebracht. Dass man versucht, diese Dinge beizubehalten und dass man sich jetzt damit beschäftigt ist wichtig.
Ich möchte ein Beispiel nennen. Wir investieren unwahrscheinlich viel Geld in verschiedene Programme, Tabligh und Tarbiyyat usw. Hudhur-e-AqdasABA hat gesagt, dass wir 40 Prozent unserer Ausgaben einsparen sollen, weil wir uns nicht mehr so bewegen können wie vorher und es Einschränkungen gibt. Es gibt ein Programm, was wir für unser 100-jähriges Jubiläum im Fokus haben. Das ist, dass jede Familie ein Bai’at machen sollte. Das ist ein Programm, wofür man kein Geld braucht. Da brauche ich keine Millionen dafür, da brauche ich nur persönliches Engagement. Also meine Botschaft an die Jamaat wäre, dass jede Familie sich Gedanken machen sollte. Wie bekommen wir diese neuen Baits für dieses Jubiläum? Wenn wir das umsetzen würden, dann hätten wir einen Schub und es würde wirklich auf dem Gebiet des Tabligh eine Revolution losgetreten werden.
Vielen Dank. Das ist ein schönes Schlusswort und eine Handlungsaufforderung zugleich.
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