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Jüdische Gerechtigkeit: Das ‘Auge um Auge’ sehen

Die israelische Führung spickt ihre Operationen gerne mit Zitaten aus der Heiligen Schrift. Sie sei auch erinnert an die zahllosen Verse über Mitgefühl, Freundlichkeit und Barmherzigkeit.

Shahzad Ahmed, Großbritannien

Die Problematik um Palästina und Israel ist tatsächlich eine historische, die Jahrzehnte zurückreicht. Aber trotz ihrer angeblich unüberschaubaren Komplexität ist sie tief in der Geopolitik verwurzelt. Etwas anderes zu behaupten und insbesondere die Religion und religiöse Schriften als Gründe zu nennen ist in höchstem Maße ungerechtfertigt, vor allem wenn es um die israelische Landnahme, illegale Siedlungen oder das unverhältnismäßige militärische Vorgehen gegen Palästinenser geht. Doch genau das geschieht. Seit der Gründung des Staates Israel bis heute werden in den Medien, von der allgemeinen Öffentlichkeit bis hin zu Regierungsvertretern, häufig Bibelzitate angeführt, um Israel als jüdisches Heimatland zu rechtfertigen. Die vielleicht am häufigsten zitierte Stelle ist 2. Chronik 6, 5-6, worin Jerusalem als die für die Israeliten auserwählte Stadt erklärt wird.

Nil Barkat, vormals Bürgermeister der Stadt Jerusalem, erklärte beispielsweise: »Überall, wo man in Jerusalem eine Schaufel in den Boden steckt, findet man jüdische Wurzeln und Verbindungen zu biblischen Geschichten.«1 Ein weiteres Beispiel ist Naftali Bennett, der ehemalige israelische Ministerpräsident. Einst zu der israelischen Besetzung des Westjordanlandes befragt, antwortete er mit: »Ändern Sie erst die Erzählung der Bibel, denn da steht alles«, und weiter: »Ich schlage vor, dass Sie zuerst die Bibel ändern, zurückkommen und mir dann eine neue Bibel zeigen, in der steht, dass das Land Israel nicht den Juden gehört.«2

Angesichts der anhaltenden Bombardierung des Gazastreifens, bei der bisher mehr als 15.000 unschuldige Zivilisten getötet wurden, hat diese Rhetorik in den letzten Tagen eine ziemlich gefährliche Form angenommen, und zwar bei niemand anderem als dem Ministerpräsidenten selbst. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu beruft sich durchgehend auf die Heilige Schrift, um den israelischen Krieg gegen Gaza zu rechtfertigen und zu verteidigen. In einer offiziellen Erklärung von letzter Woche sagt er:

»Mit vereinten Kräften, mit tiefem Glauben an die Gerechtigkeit unserer Sache und an die Ewigkeit Israels werden wir die Prophezeiung aus Jesaja 60:18 erfüllen: ‘Es soll keine Gewalt mehr in deinem Lande sein, keine Verwüstung und kein Verderben in deinen Grenzen; sondern du sollst deine Mauern Heil und deine Tore Lob nennen.’«3 Und kürzlich, als er die Forderungen nach einem Waffenstillstand zurückwies, berief er sich erneut auf die Bibel und erklärte: »Meine Damen und Herren, in der Bibel heißt es: ‘Es gibt eine Zeit für den Frieden und eine Zeit für den Krieg.’ Dies ist eine Zeit für den Krieg.«4

Die vielleicht alarmierendste und schockierendste Äußerung war jedoch seine völkermörderische Bemerkung, in der er einen Heiligen Krieg ausrief und dabei auf das Volk der Amalekiter in der Bibel verwies. Netanjahu: »Ihr müsst daran denken, was Amalek euch angetan hat, sagt unser Heiliges Buch. In 1 Samuel 15:3 heißt es: ‘Nun geht hin und schlagt Amalek und vernichtet alles, was sie haben, und verschont sie nicht, sondern tötet Mann und Frau, Kind und Säugling, Ochse und Schaf, Kamel und Esel’«

Es mag für viele Geschichtsunkundige ein Schock sein, aber genau dieser Hinweis wurde im Laufe der Jahrhunderte immer wieder zur Rechtfertigung von Völkermord verwendet, so auch bei den amerikanischen Ureinwohnern und den Tutsis in Ruanda.5

Doch während Netanjahu aus der Bibel herauspickt, was ihm passt, um die völlige Zerstörung des Gazastreifens, einschließlich der Tötung unschuldiger Zivilisten, zu rechtfertigen, scheint er eine sehr grundlegende Lehre der Thora in Bezug auf Rachegefühle vergessen zu haben:

»Wenn ein Mensch seinen Nächsten verunstaltet, so soll man ihm, wie er getan, vergelten – Bruch um Bruch, Auge um Auge, Zahn um Zahn; wie er einen Menschen verunstaltet hat, so soll auch ihm geschehen. Und wer ein Tier tötet, soll es ersetzen; wer aber einen Menschen tötet, soll getötet werden. Ihr sollt dasselbe Recht haben für den Fremden und für den Einheimischen; denn ich bin der Herr, euer Gott.« (Levitikus 24:19-22)

»Auge um Auge, Zahn um Zahn« also – mit anderen Worten, die Vergeltung für eine Verletzung soll angemessen sein; ein Gesetz, das im Übrigen für den Fremden und das eigene Volk gleichermaßen gelten soll. Doch welches Verbrechen haben die unschuldigen Zivilisten, insbesondere die Kinder und Frauen in Gaza, begangen, für das sie nun bestraft werden?

Herr Netanjahu sei auch erinnert an die zahllosen Verse der Bibel, die Mitgefühl, Freundlichkeit und Barmherzigkeit lehren und die er übersieht:

»Lass Barmherzigkeit und Wahrheit nicht von dir weichen; binde sie dir um den Hals, schreibe sie auf die Tafel deines Herzens, so wirst du Gunst und Ansehen finden bei Gott und den Menschen.« (Sprüche 3:3-4)

»So spricht der Herr der Heerscharen: “Es übe wahre Gerechtigkeit, erweise Barmherzigkeit und Mitgefühl, ein jeder seinem Bruder gegenüber. Unterdrückt nicht die Witwe oder den Waisen, den Fremden oder den Armen. Niemand von euch soll in seinem Herzen Böses gegen seinen Bruder planen.« (Zacharia 7:8-10)

Es besteht kein Zweifel, dass der Heilige Qur’an, der für Muslime das endgültige und vollständige Wort Gottes ist, eine äußerst verständliche sowie erhabene Lehre darstellt, die mit der menschlichen Natur übereinstimmt und eine Lösung für jeden Lebensbereich bietet. Was das Gebot zu Vergeltung betrifft, so heißt es im Heiligen Qur’an:

»Wer aber [statt verhältnismäßiger Vergeltung] vergibt und dadurch eine Reformation erreicht, dessen Lohn ist bei Allah.« (Der Heilige Qur’an, 42:41)

Der Verheißene Messias (as) erläutert diese universelle Lehre des Islam:

»Der Heilige Qur’an vervollkommnet und vervollständigt alle früheren Lehren… Nehmen wir die Lehren der Thora als Beispiel; wenn wir ihre Lehren auf der Grundlage der Notwendigkeit der gegenwärtigen Umstände analysieren, stellen wir fest, dass ihr Schwerpunkt auf Vergeltung und Wiedergutmachung lag; Auge um Auge, Zahn um Zahn. Im Kontrast dazu basierten die Lehren der Evangelien ganz auf Vergebung und Geduld, bis hin zu der Aussage, dass man, wenn einem jemand auf die Wange schlägt, man auch die andere Wange hinhalten soll […] Wenn die Thora sich zu einem Extrem neigt, dann neigen die Evangelien zum anderen Extrem. Der Heilige Qur’an bietet jedoch für jede Gelegenheit Lehren an, die ausgewogen und der jeweiligen Situation angemessen sind.«6

In Anbetracht des oben genannten Verses besteht das grundlegende Ziel, das der Heilige Qur’an in Bezug auf die Vergeltung vorgibt, darin, eine Reformation herbeizuführen, sei es durch Vergebung oder durch Bestrafung. Aber selbst wenn eine Strafe verhängt wird, muss sie in einem angemessenen Verhältnis zu dem begangenen Verbrechen stehen. Das schändliche Vorgehen der Hamas, die unschuldige Zivilisten tötet, ist in der Tat ein abscheuliches Verbrechen und verstößt völlig gegen die friedlichen Lehren des Islam und die edle Praxis des Heiligen Propheten (saw). Aber ist die totale Zerstörung des Gazastreifens und die Vertreibung Hunderttausender eine gerechte Reaktion auf die Aktionen der Hamas? Und kann diese unverhältnismäßige Vergeltung des israelischen Militärs und der beispiellose Verlust von unschuldigen Zivilisten einen dauerhaften Frieden bringen? Leider scheint es, dass die Grenzen zwischen der Bekämpfung der Hamas und der völligen Auslöschung des Gazastreifens in gefährlicher Weise verwischt sind.

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Über den Autor: Shahzad Ahmed ist Mitherausgeber der Zeitschrift The Review of Religions, nachdem er seinen Abschluss an der Jamia Ahmadiyya UK – Institute of Modern Languages and Theology gemacht hat. Er ist außerdem Imam der Ahmadiyya Muslim Gemeinde, hat einen Bachelor-Abschluss in englischer Literatur und moderiert Shows zu zeitgenössischen islamischen Themen für MTA International.

Quellen:
[1] https://www.npr.org/2017/12/09/569553464/to-some-zionist-christians-and-jews-the-bible-says-jerusalem-is-israels-capital
[2] https://network.aljazeera.net/en/pressroom/israel%E2%80%99s-education-minister-al-jazeera-cites-bible-jewish-claim-occupied-territories
[3] https://www.aa.com.tr/en/middle-east/netanyahu-again-invokes-sacred-scripture-to-defend-israeli-war-on-gaza/3038425
[4] https://www.theguardian.com/world/live/2023/oct/31/israel-hamas-war-live-updates-latest-news-today-hamas-clashes-idf-gaza-aid-plan-failure?page=with:block-6540eede8f0824f1348cf515&filterKeyEvents=false
[5] https://www.theguardian.com/commentisfree/2012/may/30/christian-fundamentalists-plan-teach-genocide
[6] Malfuzat [1984], Band 3, S. 37-40

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