
Ein Tag, der wachrütteln will
Ein Busbahnhof, irgendwo in Deutschland. Eine junge Frau mit Kopftuch steigt ein, die Blicke der anderen treffen sie wie Nadeln. Einer murmelt: „Da kommt wieder so eine.“ Sie schaut weg, ihr Griff um die Tasche wird fester. Niemand sagt etwas. Ein Moment der Stille, schwer wie Blei. Kein Einzelfall. 1926 solcher und ähnlicher Vorfälle wurden im Jahr 2023 dokumentiert – eine Verdopplung gegenüber dem Vorjahr. Und das sind nur die registrierten.
Am 1. Juli, dem Tag gegen antimuslimischen Rassismus, lohnt sich ein Blick hinter diese Zahlen. Nicht, um uns zu beklagen. Sondern um zu verstehen. Um zu fragen: Was läuft falsch in einer Gesellschaft, in der Menschen aufgrund ihrer Religion, ihres Aussehens oder ihrer Namen zur Zielscheibe von Hass werden?
Antimuslimischer Rassismus – das Lagebild
Laut CLAIM, einem Bündnis gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit, wurden im Jahr 2023 täglich mehr als fünf antimuslimische Vorfälle gemeldet – Angriffe auf Menschen, Moscheen, auf das Gefühl, hier sicher und zu Hause zu sein. Besonders auffällig: In den Wochen nach dem 7. Oktober, dem Angriff der Hamas und der brutalen Gegenoffensive Israels in Gaza, explodierten die Zahlen. Fast 700 Fälle wurden allein in diesem Zeitraum dokumentiert.
Politische Ereignisse werden als Gelegenheitsstrukturen missbraucht, um muslimische Gemeinschaften pauschal als antisemitisch zu brandmarken. Dabei trifft der Rassismus nicht nur gläubige Muslime. Es reicht oft schon, „so“ auszusehen – das reicht, um zur Projektionsfläche gesellschaftlicher Ängste und Vorurteile zu werden.
Zahlen, die wehtun – Geschichten, die verstummen
Die meisten Angriffe sind verbal (66 %), viele diskriminierend (19 %), zu viele gewaltsam (15 %). Es gibt Beleidigungen, Spuckattacken, Körperverletzungen, sogar vier versuchte Tötungen. Moscheen werden mit Hakenkreuzen beschmiert oder mit Hassbriefen überzogen – insgesamt wurden 65 solcher Angriffe erfasst. Frauen sind besonders betroffen – in 62 % der Fälle. Kinder erleben Rassismus bereits in der Schule, wie zum Beispiel in Form von Benachteiligung bei der Praktikumssuche. All diese Zahlen gehen aus dem Lagebild von CLAIM hervor.
Und doch: Antimuslimischer Rassismus ist nur ein Teil eines größeren Problems
Der Blick darf hier nicht enden. Rassismus hat viele Gesichter. Schwarze Menschen berichten etwa von häufigen „Zufallskontrollen“ durch die Polizei. Jüdische Gemeinden müssen vielerorts ihre Schulen und Synagogen aus Sicherheitsgründen schützen lassen. Sinti und Roma erfahren Ablehnung, die bis in Behörden reicht. Auch Geflüchtete oder Asiatisch gelesene Menschen stehen unter einem ständigen Rechtfertigungsdruck.
Und: Auch Deutsche ohne Migrationshintergrund berichten zunehmend davon, dass sie oder ihre Kinder in bestimmten sozialen Umfeldern, etwa in Schulen, Ausgrenzung oder Diskriminierung erleben. Diese Erfahrungen zeigen, dass Ausgrenzung und Vorurteile ein gesamtgesellschaftliches Problem sind, das verschiedene Bevölkerungsgruppen betreffen kann.
Was ist das für eine Gesellschaft, in der Hautfarbe, Name oder Kopftuch darüber entscheiden, ob man respektiert oder abgelehnt wird?
Die tiefere Frage: Warum dieser Hass?
Wir leben in einer Zeit der Unsicherheit. Gesellschaftlicher Wandel, wirtschaftliche Krisen, politische Radikalisierung – das alles erzeugt Angst. Und Angst sucht Schuldige. Komplexe Probleme werden auf einfache Feindbilder projiziert. Die Medien verstärken oft diese Narrative. Die Politik zieht selten klare Linien gegen Ausgrenzung – zu oft wird mit Rassismus taktiert statt ihn zu bekämpfen.
Doch das erklärt nicht, warum der Hass auf „die Anderen“ immer wiederkehrt. Was fehlt uns als Gesellschaft?
Der Beitrag der Religion: Was der Islam zu sagen hat
Ein zentrales Fundament der Religion des Islam ist die Idee von Brüderlichkeit und Gleichheit aller Menschen – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder sozialem Status.
Der Islam definiert Gleichheit anders als viele moderne Vorstellungen. Gott hat die Menschen in ihrer Vielfalt erschaffen, mit unterschiedlichen Kulturen und Eigenschaften – diese Verschiedenheit soll gegenseitiges Kennenlernen und Fortschritt ermöglichen. Körperlich können die Menschen nicht alle identisch sein, doch sind sie die Schöpfung des einen gemeinsamen Schöpfers.
Im Heiligen Qur’an heißt es dazu:
„O ihr Menschen, Wir haben euch von Mann und Frau erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, dass ihr einander kennen möget. Wahrlich, der Angesehenste von euch ist vor Allah der, der unter euch der Gottesfürchtigste ist. Siehe, Allah ist allwissend, allkundig.“ (Sure 49, Vers 14)
Dieser Vers macht klar: Wert und Würde eines Menschen bemessen sich nicht an Hautfarbe, Herkunft oder Rang, sondern an seiner Gottesfurcht und seinem moralischen Verhalten. Islam lehnt Rassismus in jeder Form ab – als Vorurteil, Herabsetzung und Gewalt.
Auch der Umgang miteinander ist im Islam geregelt. Muslime grüßen sich mit „Friede sei mit dir“ und folgen dem Vorbild des Heiligen Propheten Muhammad (saw), der die Menschlichkeit und Versöhnung betonte:
„Wenn ihr euch die Hand gebt, weicht der Groll.“
„Ihr sollt einander Speise geben und diejenigen grüßen, die ihr kennt und die ihr nicht kennt.“
Physisch zeigt sich diese Gleichheit in den Ritualen: Bei den täglichen Gebeten stehen Muslime Schulter an Schulter – ohne Unterschied in Hautfarbe oder sozialem Status. Der Höhepunkt ist die Pilgerfahrt nach Mekka, wo Millionen Menschen aller Herkunft in gleichem Gewand zusammenkommen und das eine Haus Gottes umkreisen – ein eindrucksvolles Symbol der Einheit und Gleichheit.
Besonders deutlich wird die gelebte Vielfalt auch bei der Jalsa Salana, der großen Jahresversammlung der Ahmadiyya Gemeinde. Hier treffen Menschen aus aller Welt, unterschiedlichster Herkunft und Hautfarbe, aufeinander – und feiern ihre gemeinsame Verbundenheit im Glauben und der Brüderlichkeit.
Der Prophet Muhammad (saw) sagte in seiner Abschiedspredigt:
„Ein Araber ist einem Nicht-Araber nicht überlegen, noch ist ein Nicht-Araber einem Araber überlegen. Ein Weißer ist nicht besser als ein Schwarzer, noch ist ein Schwarzer besser als ein Weißer – außer durch Gottesfurcht.“
Diese Worte sind über 1400 Jahre alt – und doch aktueller denn je. Sie fordern eine Gesellschaft, in der nicht die Herkunft trennt, sondern die Menschlichkeit verbindet.
Was muss sich also ändern – und wo beginnt Wandel?
Rassismus ist kein muslimisches Problem. Es ist ein gesellschaftliches. Die Lösung? Nicht in politischen Appellen oder gesetzlichen Verschärfungen allein. Sondern in einem Wertewandel. In der Rückbesinnung auf das, was Menschsein bedeutet.
Religion kann hier eine moralische Ressource sein. Nicht als Dogma, sondern als Quelle innerer Haltung. Als Erinnerung daran, dass der andere Mensch mehr ist als seine Hautfarbe, sein Name oder seine Religion.
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Quelle der im Artikel erwähnten Angaben, Statistiken und Daten:
CLAIM – Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit & ZEOK e. V. (2024). Zivilgesellschaftliches Lagebild antimuslimischer Rassismus. Antimuslimische Vorfälle: Ausgabe 2024. Berlin.
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