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Der Adhān und die Angst vor dem „Muezzin-Ruf“ in Deutschland

Von Mubashar Cheema

Bait Us Samad Moschee Gießen (11)

Bisher war es den fast 5,5 Millionen Muslimen in unserem demokratischen Rechtsstaat Deutschland bis auf wenige Ausnahmen nicht möglich, neben den Kirchenglocken auch den muslimischen Gebetsruf (Adhān) zum Gemeinschaftsgebet in der Moschee wahrzunehmen. Was zum Beispiel in Düren seit den 1990er-Jahren sowie auch in fast 30 anderen Moscheen in Deutschland längst gang und gäbe ist, ist durch eine Initiative der Stadt Köln seit einigen Tagen zum Dauerthema in der Medienlandschaft geworden. Das öffentliche Ausrufen des Adhān kann in Köln seit dem 8. Oktober beantragt werden und sofern der Antrag genehmigt wird, können Moscheegemeinden ihre Gläubigen zum Freitagsgebet rufen, wobei der Gebetsruf nur in der Zeit zwischen 12 und 15 Uhr und für die Dauer von maximal fünf Minuten erfolgen darf. Die Lautstärke wird je nach Lage der Moschee festgelegt. Außerdem muss die jeweilige Moscheegemeinde die Nachbarschaft frühzeitig mit Flyern informieren und eine Ansprechperson benennen, die Fragen beantworten oder Beschwerden entgegennehmen kann. 

Aus den Überlieferungen (Ahadith) des Heiligen Propheten MuhammadSAW lässt sich die Entwicklung des Gebetsrufes rekonstruieren: 

Zu Beginn war die Zahl der Muslime in Mekka gering. Sie konnten ohne einen Gebetsruf das Gebet verrichten. Als der Heilige Prophet MuhammadSAW in Medina ankam, begann die Zahl der Muslime zu wachsen. Der Heilige Prophet MuhammadSAW baute die Moschee „Masjid Al-Nabawi“ und schon im zweiten Jahr nach der Hidschra1 (623/624 n.Chr.) wuchs die Zahl der Muslime deutlich. Die Muslime verkündeten zunächst mit lauter Stimme, „As-salat ul-jamiah“ [das Gebet ist für die gemeinsame Verrichtung bereit] und diejenigen, die diesen Ruf hörten, kamen, um am Gebet teilzunehmen. Die Muslime hatten dennoch das Bedürfnis, einen Weg zu finden, die Menschen durch ein formelles Ritual zu informieren, zum Gottesdienst zu kommen. Der Heilige Prophet MuhammadSAW bat seine Gefährten um Rat. Einige schlugen vor, dass die Muslime, wie die Juden, ein Horn (Schofar) blasen sollten, um die Zeit für Gebet anzukündigen. Andere sagten, die Muslime könnten Glocken läuten, wie es die Christen in ihren Kirchen tun. Einige schlugen vor, dass die Muslime wie die Feueranbeter ein Feuer entzünden sollten, um die Menschen zum Gebet zu rufen. Der Heilige Prophet MuhammadSAW war mit keiner dieser Ideen zufrieden. Er wartete darauf, eine bessere Idee zu hören oder eine Weisung von Allah zu erhalten. Eines Tages kam der Gefährte Abdullah Ibn ZaidRA zum Heiligen Propheten MuhammadSAW und sagte: „O Gesandter Allahs! Ich hatte letzte Nacht einen wunderschönen Traum. Ich habe gesehen, dass ein Mann, der ein grünes Gewand trug, mich die Worte eines Gebetsrufs lehrte und mir riet, die Menschen mit diesen Worten zum Gebet zu einzuladen.“ 

Dann rezitierte er die Worte des Adhān. Die Worte waren schön und voller Bedeutung. Der Heilige Prophet MuhammadSAW erkannte, dass der Traum von Abdullah Ibn ZaidRA ein Wahrtraum war. Er bat Abdullah Ibn ZaidRA, dem freigelassenen abessinischen2 Sklaven und Gefährten Bilāl ibn Rabāḥ al-ḤabašīRA die Worte des Adhān zu lehren. Bilal stand auf und rief den Adhān. Die Stimme Bilals ertönte in ganz Medina und er wurde somit zum ersten Muezzin der Geschichte des Islam. Die Menschen strömten zur „Masjid Al-Nabawi“. 

Umar Ibn KhattabRA war einer derjenigen, die kamen und er sagte: „O Gesandter Allahs, ein Engel lehrte mich diese Worte in meinem Traum letzte Nacht.“ Dies bestätigte für den Heiligen Propheten MuhammadSAW nochmals diesen Gebetsruf als offiziellen Aufruf zum Gebet3.

Was eigentlich ein grundgesetzlich verbrieftes Recht sein sollte, muss in der Praxis, wie so oft, mühselig eingefordert werden. Das hohe Gut der Freiheit der Religionsausübung wird in vielen Belangen schlicht übergangen: Während in christlichen Kirchen die Glocken geläutet werden, um die Gläubigen zum Gottesdienst zu rufen, sind es in den Moscheen muslimischer Glaubensgemeinschaften die Rufe des Muezzins, die diesen Zweck erfüllen.

Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker erinnerte daran, dass viele Muslimas und Muslime gebürtige KölnerInnen seien und fester Bestandteil der Stadtgesellschaft. Wer das anzweifle, stelle die Kölner Identität und das friedliche Zusammenleben infrage. Genauso stellte der EKD-Ratsvorsitzende Bedford-Strohm klar, dass er offen für den Muezzin-Ruf sei: Dass Muslime hier ihre Religion ausübten, gehöre für ihn zu einer demokratischen Gesellschaft.

Indes herrscht bei den berüchtigten „Islamkritikern“ gerade Hochbetrieb: Kelek, Schröter, Mansour, Samad und Konsorten werden in nahezu allen Medien zitiert und platziert, wohingegen Vertreter des Islams kaum in Erscheinung treten. Diese einseitige und angstschürende Berichterstattung resultiert darin, dass nach einer aktuellen Umfrage etwa drei Viertel (76%) der Bürger in Deutschland dagegen sind, dass der Adhān ebenso selbstverständlich sein sollte wie das Läuten der Kirchenglocken. 64 Prozent davon wollen dies „auf keinen Fall“. Das ergab eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts „Civey“ im Auftrag des „Bonner General-Anzeigers“. Demnach plädieren nur 18 Prozent für den islamischen Gebetsruf. Sechs Prozent sind unentschieden. Er ist vielen wahrscheinlich nur aus ihrem Urlaub in islamischen Ländern bekannt, aber sie kennen die Bedeutung nicht. Das omnipräsente verzerrte Bild des Islam in den Medien trägt ohnehin zu solchen Meinungsbildungsprozessen bei.

© https://ga.de/news/politik/muezzin-ruf-grosse-mehrheit-in-deutschland-lehnt-ihn-ab_aid-63505341

Dabei werden wissentlich falsche Konnotationen mit dem „Muezzin-Ruf“ suggeriert. Der erste Satz des Aḏhān Allāhu akbar d.h. „Allah ist der Größte“ wird arglistig als Kritikpunkt dargestellt, da dieser von Extremisten bei ihren Gräueltaten gekapert wird. Selbst das Wort „Allah“ wird dargestellt, als würde hier über einen „anderen Gott” gesprochen werden und Muslime einen anderen Gott anbeten als Christen. Damit würde nach den Kritikern angedeutet, dass es eine Vormachtstellung des Islam gäbe, obwohl in Wahrheit ein und derselbe monotheistische Gott angebetet wird. Tatsächlich ist Gottes Eigenname im Arabischen „Allah“ und selbst arabische Christen gebrauchen das Wort „Allah“ für Gott. 

Der SatzAllāhu akbar d.h. „Allah ist der Größte“ wird anfangs ganze viermal im Gebetsruf wiederholt. Dies zieht die Aufmerksamkeit der MuslimInnen auf sich, da Gott der Schöpfer, der Bildner und der Gewährer von allem ist, was der Mensch wahrnehmen kann, ja sogar von mehr als er sich je vorstellen kann. Die Erwähnung von Gottes Eigenschaft der Großartigkeit zieht weitere Aufmerksamkeit auf sich und legt größeren Wert auf die Verrichtung des Gottesdienstes an sich. 

Weiter heißt es im Aḏhān:


ḥayya ʿala ṣ-ṣalāh – ḥayya ʿala l-falāḥ, d.h. „Eilt herbei zum Gebet! Eilt herbei zum Erfolg!“

Dies sind die genauen Worte der Botschaft, die im Aḏhān enthalten sind. Keine andere Ankündigung oder Bekanntmachung erreicht jeden Tag weltweit milliardenfach Menschen zu verschiedenen Zeiten. In einigen muslimischen Ländern ist zu beobachten, dass die muslimischen Ladenbesitzer sofort ihren Handel ruhen lassen, wenn der Aḏhān gerufen wird und zur Moschee eilen.

In authentischen Ahadith4 des Heiligen Propheten MuhammadSAW ist davon die Rede, dass er dem Muezzin z.B. bei Regen eine Abwandlung des Gebetsrufes befohlen habe, um den Gläubigen das Gebet nicht zu erschweren. Während der Corona-Krise wurden in zahlreichen muslimischen Regionen die Gebetsrufe leicht abgewandelt. Dabei wurden entweder die Passage „eilt zum Gebet“ (ḥayya ʿala ṣ-ṣalāh) durch z. B. „betet in euren Häusern“ (aṣ-ṣalātu fī buyūtikum) ersetzt oder entsprechende Passagen am Ende des Rufes angefügt. 

Nachdem die essenzielle Botschaft verkündet und die Vorteile des Gebets erklärt wurden, wird die Erhabenheit und Einheit Gottes verkündet und wiederholt. Am Ende des Aḏhān erklärt der Muezzin:


(Allāhu akbar, Allāhu akbar. Lā ilāha illallāh. d.h. „Allah ist der Größte, Allah ist der Größte. Niemand ist anbetungswürdig außer Allah.“)Es bleibt abzuwarten, wie sich dieses unnötig aufgebauschte Thema in naher Zukunft entwickeln wird und wie die Nachbarschaften um die teilnehmenden Moscheegemeinden tatsächlich reagieren werden. Gemessen an den nahezu 30 Orten, an denen der Adhan bereits ertönt und es einwandfrei funktioniert, lässt viel Hoffnung zu.5 Wenn neben dem Kirchengeläut auch der Ruf des Muezzins zu hören ist, zeigt es, dass Vielfalt in dieser Gesellschaft geschätzt und gelebt wird. Dass Extremisten diesen Ruf missbrauchen, ist das eigentliche Problem – nicht der Muezzin-Ruf.

Über den Autor: Herr Mubashar Cheema hat Germanistik & Anglistik studiert und ist hauptamtlich bei der Ahmadiyya Muslim Jamaat Deutschland KdöR tätig. Er ist zudem langjähriges Redaktionsmitglied der »Revue der Religionen«.

Anmerkungen:
1 Auswanderung
2 heutiges Äthiopien
3 Hadith-Sammlung, Bukhari; Band I, Buch 11, Nummer 577-580
 Vgl. Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, Hadith Nr. 599 & 874 sowie Ṣaḥīḥ Muslim, Hadith Nr. 1173
https://www.deutschlandfunk.de/dueren-und-taeglich-gruesst-der-muezzin.1773.de.html?dram:article_id=353605; (Stand: 20.10.2021)

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1 Kommentar

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  • Sehr informationshaltiger und guter Artikel!
    Sehr gute Aufklärung von Adhan und dem „Muezzin-Ruf”
    Hoffentlich verstehen viele Leute die richtige Bedeutung des Islams

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