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Ein Unrecht wiegt das andere nicht auf

Wir müssen die Deutungshoheit über unsere Religion zurückerobern. Der Angriff einfallender Horden, getarnt als Selbstjustiz der Unterdrückten, bleibt unmenschlicher Extremismus.

von Khola Maryam Hübsch

Ich erinnere mich genau, als ich die Geschichte über den Heiligen Propheten MuhammadSAW und einen jüdischen Leichnam zum ersten Mal hörte. Der Heilige Prophet MuhammadSAW, so ist überliefert, steht aus Respekt auf, als eine Trauergemeinde an ihm vorbeizieht. Seine Gefährten beschwichtigten ihn, sitzen zu bleiben: »Es ist nur ein Jude gestorben«, sagen sie. »Ist ein Jude denn kein Mensch?«, erwidert der Heilige ProphetSAW und bleibt stehen. 

Wie in einer Szene aus Lessings Nathan der Weise, dem wohl wichtigsten Drama der Aufklärung. Weisheitstrunken fragt der Jude Nathan: »Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, als Mensch? Ah! Wenn ich einen mehr in Euch gefunden hätte, dem es genügt, ein Mensch zu heißen!« Im Jerusalem der Kreuzzüge lässt Lessing einen Juden, der seine gesamte Familie durch einen antisemitischen Pogrom verloren hat, zum Sinnbild der Menschlichkeit werden. Durch Gottes Hilfe gelingt es ihm, seinen Hass auf Christen zu überwinden und er adoptiert ein christliches Baby. 

Wenn ich dieser Tage durch meine Timeline scrolle und mir die Kommentare und Posts einiger meiner muslimischen Bekannten anschaue, bin ich ratlos. Was ist geblieben vom rationalen Humanismus des Islam, der einst große Denker der Aufklärung wie Lessing inspirierte? Literaturwissenschaftler haben herausgearbeitet, dass zentrale Stellen der berühmten Ringparabel, die Lessing Nathan erzählen lässt, offenbar von Qur’an-Versen inspiriert sind.

Muslimische Influencer scheinen die Sprachgewalt des Qur’an vergessen zu haben, stattdessen ist es die Macht der Bilder, die überwältigt. Ich sehe Videos, auf denen leblose palästinensische Babys herumgereicht werden. Bilder, die unerträglich sind. Ich spüre, wie der Schmerz mein Gehirn lähmt, wie sich eine Wut einschleicht, die droht, meinen Verstand auszuschalten. Trotzdem mache ich mir klar: Es sind Bilder, die im Gewand des Mitgefühls daherkommen und doch auch Zwietracht säen können. Sie sind Teil der psychologischen Kriegsführung.

Während der Algorithmus mir palästinensische Säuglinge zeigt, titelt die Bild-Zeitung: »Babys mit abgeschnittenen Köpfen«, und meint israelische. Die toten Babys, sie waren Menschenkinder. Ob sie eine jüdische oder eine muslimische Mutter hatten, ist belanglos. 

Mäßigende Töne, deutliche Worte der Solidarität mit israelischen Opfern haben es angesichts solcher herzzerreißenden Bilder schwer in der muslimischen Social-Media-Blase. Immer wieder fallen mir Statements auf, die auf mehr als ein halbes Jahrhundert israelischer Besatzung, auf die Vertreibung von Palästinensern und die Blockaden am Gazastreifen hinweisen. Es ist vom Freiluftgefängnis Gaza die Rede, vom Massaker 2014, von der Nakba. So als wiege das eine Unrecht das andere auf. Als sei Gerechtigkeit dadurch herzustellen, dass beide Seiten gleiches Maß an Leid erfahren. Es sei ein Kampf Verzweifelter gegen eine reiche Militärmacht, David gegen Goliath. Man müsse die Vorgeschichte benennen, steht dort. 

Ich muss wieder an eine Begebenheit aus der Zeit des Propheten MuhammadSAW denken. Ein Jude und ein Muslim streiten sich darüber, wer der größte Prophet sei. »MosesAS«, ist der Jude überzeugt. Der Muslim sieht das freilich anders. Daraufhin beschwert sich der Jude über dessen Verhalten beim ProphetenSAW. Dieser weist den Muslim an: »Tut nicht meinen Vorrang über MosesAS kund.« (Ṣaḥīḥu l-buḫārī) Anstand, Demut und Höflichkeit sind es, was wir Muslime daraus lernen können. Denn natürlich glauben wir, dass der Prophet des Islam, der im Heiligen Qur’an als »Barmherzigkeit für alle Welten« (21:108) und »Siegel der Propheten« (33:41) bezeichnet wird, den höchsten Rang unter allen Propheten einnimmt. Und doch gebietet der Takt eine gewisse Rücksicht im Umgang mit Andersdenkenden. 

Es ist dieses Maß an Feingefühl, das etlichen Muslimen unmittelbar nach dem menschenverachtenden Angriff der Extremisten am 7. Oktober 2023 fehlt. Anstatt ein Fehlverhalten einzugestehen, verfallen sie sofort in eine »Ja, aber…«-Rhetorik und verweisen auf die Grausamkeiten der Vergangenheit, die dem palästinensischen Volk angetan wurden. 

»Ist euch klar, wie ihr damit missverstanden werden könnt?«, frage ich nachdenklich – und stoße auf Unverständnis. Die große Betroffenheit der westlichen Welt, die fassungslos auf Israel blickt, scheint manch einen muslimischen Aktivisten blind zu machen für das ungeheuerliche Verbrechen, das den Solidaritätsbekundungen voranging. Was sie sehen, ist die Unsichtbarkeit palästinensischen Leids. Was sie sehen, ist die seit Jahrzehnten beklagte, fehlende Solidarität der westlichen Welt mit unschuldigen Zivilisten in Palästina. 

Können wir mit Ursachenanalysen nicht ein wenig warten? Unmittelbar nach einem Massaker historischen Ausmaßes erscheinen diese vielen als Rechtfertigungsversuch. Als seien die menschenverachtenden Gräuel der Hamas Teil eines dekolonialen Befreiungskampfs. Die Reaktionen auf meinen Einwand sind verhalten. Alle distanzieren sich sofort von den Terroristen, doch fragen immer noch: »Welche Wahl haben Menschen im Gazastreifen?« Ich frage zurück: »Haben wir nicht immer eine Wahl?« 

Ich bin enttäuscht von manchen meiner Glaubensgeschwister, die sich in ihren Hass hineinsteigern, auch wenn ich ihre Frustration verstehen kann. Gehört es aber nicht zum Kernanliegen unserer Religion, Verbitterung und Wut in ein Gebet zu verwandeln, das das Herz schmelzen lässt und die Macht hat, alles zu verändern? Wurden die frühen Muslime nicht unter grausamer Folter dazu angehalten, ihren Glauben zu verleugnen, und riefen dennoch »Allāhu akbar – Gott ist größer.« Größer auch als die Macht der Unterdrücker. Viele starben für ihren Glauben, das ist das Gründungsnarrativ der islamischen Religion. Es ist das gleiche »Allāhu akbar«, das wir dieser Tage aus verstörenden Videos hören, gerufen von gewaltberauschten Extremisten, die offenbar kurz zuvor eine junge Frau entführt und misshandelt haben. Es bedrückt mich, die heiligen Worte, die auch zum islamischen Ritualgebet gehören, auf diese Weise verunglimpft zu sehen. Statt uns der Macht des Gebetes bewusst zu werden und uns die Deutungshoheit über unsere Religion zurückzuerobern, akzeptieren einige von uns Muslimen – vielleicht unbewusst – die Schmähung islamischer Werte als Ausweg aus der wahrgenommenen Ohnmacht. Selbst wer zu wählen hat zwischen der eigenen Not und dem Begehen schlimmster Grausamkeiten, hat eine Wahl. 

»Und die Feindseligkeit eines Volkes soll euch nicht verleiten, anders denn gerecht zu handeln« (5:9), heißt es im Heiligen Qur’an. »Vielleicht wird Allah Liebe setzen zwischen euch und denen unter ihnen, mit denen ihr in Feindschaft lebt.« an anderer Stelle (60:8). Zur Nächstenliebe mahnende Qur’an-Verse sind keine realitätsferne Folklore – sie sind der Inbegriff von Weisheit, haben wir das vergessen?

Ich höre in mir die Stimmen der anderen, die religionskritischen wie die extremistischen: »Es gibt doch auch die Verse, die zur Gewalt aufrufen, die zum Töten von Ungläubigen auffordern.« Diese beziehen sich ausschließlich auf das Recht zur Selbstverteidigung im Falle eines Angriffskriegs und können niemals ein Massaker an Unschuldigen rechtfertigen. Wenn »Klöster und Kirchen und Synagogen und Moscheen« (22:41) in Gefahr sind, wie der Qur’an glaubensübergreifend betont, sind Muslime verpflichtet, sie alle zu schützen. 

Ich warte ungeduldig auf die Stellungnahme meiner muslimischen Gemeinde. Endlich: Das Töten unschuldiger Zivilisten sei ein direkter Verstoß gegen die Lehren des Heiligen ProphetenSAW, heißt es darin. Selbst im Kriegszustand darf laut islamischem Kriegskodex keine Frau, kein Kind, kein älterer Mensch, kein Geistlicher, kein Ort der Anbetung angegriffen werden. Eine Selbstverständlichkeit, an die dieser Tage wieder erinnert werden muss. Denn wie unmenschlich ein Krieg auch ist, so zwingen sowohl die islamische Rechtsprechung als auch das Völkerrecht ihn in ethische Rahmen. Der Terror einfallender Horden hingegen – getarnt als Boten der Selbstjustiz der Unterdrückten – bleibt barbarischer Extremismus, der islamischen Werten diametral entgegensteht.

Natürlich gibt es Hassprediger, die den Islam anders auslegen. Doch wann ist ein dringenderer Zeitpunkt, auf das Friedenspotential einer Religion hinzuweisen, die mit 1,9 Milliarden Menschen ein Viertel der Weltbevölkerung beeinflusst, als in Zeiten des Krieges? Menschen, die sich zu diesem Glauben nicht aus politischen, sondern aus spirituellen Gründen bekennen, finden Trost im Gebet und folgen einer Ethik des gelebten Miteinanders. 

Was sagt es dagegen über den Zustand der politischen Führer in muslimischen Ländern aus, dass sie nicht imstande sind, einheitlich für eine Friedenslösung einzutreten, die nicht nur dem unschuldigen Teil der palästinensischen Zivilbevölkerung zugutekommt, sondern auch den Extremismus in den eigenen Reihen eindämmt? 

Auch muslimische Prediger, die sich sonst gerne versöhnlich geben, fallen mit harter Wortwahl auf. Einer der einflussreichsten Imame im Internet, Omar Suleiman, liefert sich auf der Plattform X, vormals Twitter, einen hässlichen Schlagabtausch mit dem konservativen Bestsellerautor und reichweitenstarken Influencer Jordan Peterson. Beide hatten sich erst kürzlich für den interreligiösen Dialog zwischen Christen und Muslimen eingesetzt, nun wünschen sie einander die Hölle. »Give ’em hell«, schreibt Peterson an den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu gerichtet und lässt offen, ob er noch zwischen Hamas und Palästinensern unterscheidet. »Go to hell«, antwortet der Imam und hat sich damit entschieden, alle Brücken abzureißen. Millionen lesen mit. 

Meine Freundin ruft an. Sie ist Muslimin, ihre Kinder besuchen eine jüdische Schule – auch das gibt es. Sie ist erschüttert, gehört zu denjenigen, die die israelische Perspektive verstehen, ohne die palästinensische aus den Augen zu verlieren. Für sie sind Juden Menschen, mit denen sie tagtäglich spricht. Die Kommunikationskanäle müssen offen bleiben, fordern Diplomaten aus aller Welt und auch islamische Geistliche, wie der Kalif meiner Gemeinde, Seine Heiligkeit Hadhrat Mirza Masroor AhmadABA. Doch in der fragmentierten Welt virtueller Filterblasen und Echokammern haben wir den Gesprächsfaden längst verloren. Ich sehe unversöhnliche Meinungslager, die sich gegenseitig verurteilen. Klare Positionierungen jenseits des eigenen Lagers sind rar geworden, es scheint nur noch ein pro-Palästina oder ein pro-Israel geben zu können. Ich bin pro-Mensch, denke ich. 

Woher kommt das Frontendenken, das nur noch die eigene Position wahrnimmt? Wir werden gemeinsam angegriffen von Tätern, die Menschenfeinde sind. Zeigt sich Empathie nicht im uneigennützigen Einsatz für die Rechte anderer? Erkennen wir uns selbst und unseren Wert als Menschen nicht im Antlitz des anderen? War das nicht einst ein Kerngedanke der Aufklärung? Wenn jemand einen unschuldigen Menschen tötet, so soll es so sein, als habe er die gesamte Menschheit getötet, heißt es im Heiligen Qur’an (vgl. 5:33) sowie im Talmud.

»Sind denn Jud und Muslim, eher Jud und Muslim, als Mensch?« möchte ich wieder mit den Worten Nathans fragen. Das Menschsein – es scheint uns nicht mehr zu genügen. Vielleicht werfen meine muslimischen Freunde mir nun vor, das Leid unserer palästinensischen Glaubensgeschwister zu verharmlosen und die historischen Zusammenhänge nicht ausreichend zu berücksichtigen. Doch wer die Gewalt gegen Unschuldige nicht verurteilt, wird auch nicht erkennen, welches unvorstellbare Elend daraus nun für die Palästinenser erwächst. Nachhaltiger Frieden ist ohne Gerechtigkeit nicht möglich. Und Gerechtigkeit entsteht niemals auf dem Rücken von Unrecht. 

Die verbrecherische Siedlungspolitik Israels rechtfertigt die unislamischen Massaker der Hamas auf keine Weise – sie widersprechen dem islamischen Recht. Ebenso wenig können die Gräueltaten gegen Israel den völkerrechtswidrigen Mord unschuldiger, palästinensischer Zivilisten legitimieren.

Ich habe Angst davor, dass ein Verbrechen gegen die Menschheit das nächste jagt. Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant kündigte einen Vergeltungsschlag an, der über Generationen hinweg nachhallen werde. Ich mag mir nicht vorstellen, was uns bevorsteht. Gallant spricht bereits von »menschlichen Tieren«, statt von Menschen. Eine Beschreibung, die auf radikal-militante Extremisten zutreffen mag. Denke ich aber an die unschuldigen Zivilisten, die die Verlierer in diesem Kampf sein werden, möchte ich in der Tradition des Heiligen Propheten MuhammadSAW aufstehen und fragen: »Sind sie nicht Menschenseelen?«

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Über die Autorin: Khola Maryam Hübsch ist eine freie Journalistin und Publizistin. Sie hält Fach- und Publikumsvorträge zum Thema Islam.

1 Kommentar

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  • Es ist trotzdem wichtig, schon jetzt zu wissen, wie Menschen, nicht nur im Krieg, zu barbarischem Handeln kommen! Nur so kann man die Wurzeln von Ungerechtigkeit, Krieg und Zerstörung angehen bekämpfen!

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