Theorien westlicher Psychoanalytiker & Erziehungsvorbild des Heiligen Propheten des Islam
Von Tanzeela Khalid
John Bowlby wandte sich von der Trieblehre Sigmund Freuds ab und entwickelte in den 50er Jahren die Bindungstheorie.1 Er stufte die Bindung bzw. das angeborene Bindungssystem als primär ein und war der Ansicht, dass Kinder genetisch bedingt ein besonderes Band zu ihrer primären Bezugsperson entwickeln.2 Eine Trennung von dieser Bindungsperson aktiviert das Bindungsverhalten des Kindes. Es äußert seine Angst durch einen Trennungsprotest, verbunden mit verschiedenen Verhaltenssignalen.3 Bowlby und seine Mitarbeiterin Mary Salter Ainsworth gingen davon aus, dass menschliche Kinder, deren Mütter prompt auf ihr Schreien reagieren, weniger schreien als Mütter, die ihre Kinder aus welchen Gründen auch immer schreien lassen.4
Demnach definiert Ainsworth die Bindung als ein aktives Verhalten bzw. als eine Handlung, die sehr viel Zuneigung benötigt und auf Gegenseitigkeit beruht. Hierbei spielt die Feinfühligkeit der Eltern für die Bindung der Kinder eine zentrale Rolle.5,6
Nach Ainsworth gibt es vier Determinanten der Bindung, die das Feinfühligkeitskonzept bestimmen. Der erste Aspekt ist die Wahrnehmung. Die Bezugsperson ist demnach in der Lage, sowohl die nonverbale Kommunikation als auch die schwer zu deutenden Signalen des Kindes zu empfangen. Beim zweiten Aspekt, der Interpretation, ist die Bezugsperson in der Lage, diese Äußerungen richtig und einfühlsam zu interpretieren. „Die adäquate Interpretation bedingt eine störungsfreie Wahrnehmung und Einfühlungsvermögen.“7 Der Aspekt der Promptheit besagt, dass die Bezugsperson auf die kindlichen Signale innerhalb einer bestimmten Zeit reagieren muss, um es dem Kind zu ermöglichen, diese Reaktion seinen ausgesendeten Signalen zuzuordnen. „Gemäß Experimentalstudien mit Säuglingen sollte das Reiz-Reaktions-Intervall innerhalb von ca. 5 bis 8 s liegen.“7 Mit dem Alter des Kindes wird auch dieses Reaktions-Intervall größer. Der letzte Aspekt der Feinfühligkeit ist die Angemessenheit. Hierbei ist das Bindungsverhalten der Kinder aktiv. Werden die kindlichen Bedürfnisse angemessen erfüllt, kann das Kind wirksam beruhigt werden. Hierbei ist zu beachten, dass auch unangemessene Reaktionen zu beobachten sind, wenn die Bezugsperson ein feindseliges oder überbehütendes Verhalten aufweist, Köpernähe und Blickkontakt vermeidet oder anderweitig auf die Bindungssignale nicht reagiert.7
Ainsworth und Wittig (1969) sind der Meinung, dass bestimmte Variablen in der Mutter-Kind-Interaktion eine gesunde Bindungsentwicklung fördern können. Zum einen ist ein häufiger, zeitintensiver Körperkontakt mit dem Kind in den ersten Lebensjahren sehr wichtig. Hierzu ist es auch von großer Bedeutung, das Kind durch körperlichen Kontakt zu beruhigen. Auch das Feinfühligkeitsgefühl der Mutter ist für eine gesunde Entwicklung von enormer Wichtigkeit. Des Weiteren ist eine Umwelt zentral, die es dem Kind ermöglicht, die Konsequenzen seiner eigenen Handlung zu erkennen. Es soll ein Bewusstsein hierfür entwickeln, dass seine Handlungen einen bestimmten Effekt hervorrufen. Für die kindliche Entwicklung ist zudem die Möglichkeit zu explorativem Verhalten fundamental, da dieses das Kind lernen lässt. Zuletzt soll durch die Mutter-Kind-Interaktion eine gegenseitige und wahrnehmbare Freude hervorgerufen werden.8
Doch die psychoanalytische Theorie von Freud dagegen hatte die Annahme, dass das Schreien der Kinder verschlimmere, wenn dem Baby Aufmerksamkeit geschenkt wird bzw. hochgenommen wird.9 Psychoanalytiker bzw. Erziehungswissenschaftler wissen, dass dies nur zwei Theorien von vielen sind. Es gibt zahlreiche Entwicklungsmodelle von Piaget bis hin zu Freud. Bei so vielen verschiedenen Theorien verliert man schnell den Überblick. Welche von diesen Theorien sind denn nun korrekt. Die Psychoanalyse bzw. die Triebtheorie Freuds wird vor allem im Westen sehr groß gefeiert.
Dennoch bilden die oben genannten Theorien einen Widerspruch in sich. Auch ich stellte mir die Frage, welche dieser Theorien denn die angemessene sei. Im Aspekt der Promptheit vor allem suchte ich den richtigen Ausweg. Meine Studieninhalte habe ich sehr oft mit meiner Mutter diskutiert, vor allem, wenn es um die Erziehung der Kinder ging. Mit dieser Problematik, welche der oben genannten Theorie hinsichtlich der Promptheit die bestmögliche sei, ging ich wieder mal zu ihr. Sie wies mich darauf hin, dass ich die Antwort dieser Frage in der schönen Lehre des Islams wiederfinden werde und all die Theorien, die ich auch in der Zukunft behandeln werde, stets mit der Lehre des Islams vergleichen soll und dann erst eine Schlussfolgerung ziehen soll. In der oben genannten Thematik wies sie mich auf die Praxis des Heiligen Propheten MuhammadSAW hin.
In einem Hadith wird überliefert, dass der Heilige Prophet MuhammadSAW das Gemeinschaftsgebet verkürzte, als er währenddessen ein Kind weinen hörte, sodass es weder der Mutter des Kindes erschwerte noch das weinende Kind.
Hadhrat Abu QatadaRA berichtet, dass der Heilige ProphetSAW sagte: „Ich gehe zum Gebet mit der Absicht, es etwas länger auszudehnen, dann höre ich das Weinen eines Kindes, so verkürze ich das Gebet, weil ich nicht mag, dass die Mutter wegen ihres Kindes sich beunruhigt.“
Ṣaḥīḥul-Buḫārī
So war es gewährleistet, dass sich die Mutter umgehend um das Kind kümmern konnte. Dies ist eins der großartigen Beispiele seiner barmherzigen Charaktereigenschaften des Propheten MuhammadSAW. Hiermit bestätigte für mich die Theorie, das schreiende Kind keineswegs zu ignorieren, sondern mit sehr viel Zuneigung und Barmherzigkeit auf seine Signale in einem bestimmten Zeitfenster zu reagieren und zu beruhigen. Wie bereits anfangs erwähnt besagt der Aspekt der Promptheit nach Ainsworth aus, dass die Bezugsperson auf die kindlichen Signale innerhalb einer bestimmten Zeit reagieren muss, um es dem Kind zu ermöglichen, diese Reaktion seinen ausgesendeten Signalen zuzuordnen.
Über die Autorin: Tanzeela Khalid ist Erziehungswissenschaftlerin und Germanistin.
Referenzen:
1 vgl. Bowlby 1980, S. 41
2 vgl. Grossmann & Grossmann 2017 S. 7
3 vgl. ebd.: 33
4 vgl. Bowlby 1980, S. 46
5 vgl. Zemp, Bodenmann & Zimmermann 2019, S. 10
6 Aktuelle Untersuchungen belegen, dass Bezugspersonen von sicher gebundenen Kindern eine höhere Feinfühligkeit aufweisen als Bezugspersonen von Kindern mit einer unsicher-vermeidenden Bindung (vgl. Zemp, Bodenmann & Zimmermann 2019, S. 10).
7 ebd.: 10
8 vgl. Ainsworth & Wittig 1969, S. 115f
9 vgl. ebd.: 33
Schöner Artikel – sehr umfangreich. Hoffe auf einen Folgeartikel mit mehr Beispielen aus dem Leben des Heiligen Propheten (Saw) bzgl der Erziehungsthematik.
Auch ich hoffe auf einen Folgeartikel, denn der Inhalt war recht spannend und gut zu lesen gewesen. Die Auseinandersetzung mit dem heutigen Denken über die Erziehungsarten ist ein Thema, worüber es noch viele Diskussionem vor Allem in Verbindung mit der islamischen Lehre geben sollte.
JazakAllah an die Autorin
Sehr interessanter Aspekt der Erziehungswissenschaft…es ist immer wieder spannend zu lesen, dass Glaube bzw. Religion und Wissenschaft keine getrennte Welten sind. Es ist nur eine Frage der Perspektive.