Standpunkt der Ahmadiyya Muslim Jamaat zum nasḫ im Qur’an
Teil 2 von 2
von Mohammad Luqman Majoka
Im ersten Teil dieses Artikels sind wir der Frage nachgegangen, ob prinzipiell eine Abrogation mit dem Heiligen Qur’an vereinbar ist, und kamen zu der Schlussfolgerung, dass dies den deutlichen Aussagen des Qur’an widerspricht. Der Qur’an beansprucht, keinen Widerspruch und Zweifel in sich zu tragen, und gibt diese Widerspruchslosigkeit als einen Beweis für seinen göttlichen Ursprung an.
In diesem Teil des Artikels wollen wir nun auf die einzelnen Vorstellungen von nasḫ näher eingehen und diese analysieren.
Bedingungen von nasḫ
Gemeinhin geben die Befürworter von nasḫ folgende Bedingungen einer Abrogation an:
1. Das Vorhandensein eines Widerspruchs zwischen zwei Geboten, die nicht in Einklang gebracht werden können.
2. Der abrogierende Vers (an-nāsikh) wurde später offenbart als der abrogierte Vers (al-mansūkh).
3. Die Abrogation betrifft ein göttliches Gebot (hukm šar‘ī).
4. nāsiḫ und mansūḫ müssen gleichwertig sein, was ihre Gültigkeit und Befolgung anbelangt, d. h., ein Gebot des Qur’an oder eine Sunna kann nicht z. B. durch Analogieschluss (Qiyas) oder Konsens (Idschma) abrogiert werden.
Drei angeführte Arten des nasḫ und ihre Analyse
Basierend auf den Bedingungen von nasḫ unterteilt man die Abrogation in drei Arten:
1. nasḫ al-hukm dūna t-tilāwa (Abrogation des Gebotes bei Beibehaltung des Textes)
Damit meint man die Abrogation eines Gebots, dessen zugehöriger Vers jedoch immer noch im Qur’an zu finden sei. Als Beispiel dafür wird der folgende Vers der sūra al-baqara angeführt:
„Und die von euch sterben und Gattinnen hinterlassen sollen ihren Gattinnen Versorgung auf ein Jahr vermachen, ohne dass sie aus dem Haus müssten. Gehen sie aber von selbst, so soll euch kein Tadel treffen für irgendetwas, was sie nach Billigkeit mit sich selber tun. Und Allah ist allmächtig, allweise.“ (2:241)
Dieser Vers soll von dem folgenden Vers abrogiert worden sein:
„Und wenn welche unter euch sterben und Gattinnen hinterlassen, so sollen diese in Bezug auf sich selbst vier Monate und zehn Tage warten. Haben sie dann das Ende ihrer Wartefrist erreicht, so soll euch keine Schuld treffen für irgendetwas, das sie mit sich selber nach Billigkeit tun; und Allah achtet wohl eure Taten.“ (2:235)
Die Argumentation für die Abrogation hier lautete, dass im ersten Vers die ‘idda (Wartezeit der Witwe) auf ein Jahr festgelegt worden sei. Später aber sei die ‘idda auf vier Monate und 10 Tage verkürzt worden. So habe das Gebot im Vers 2:235 das vorherige Gebot im Vers 2:241 abrogiert, wobei der Vers 2:241 im Wortlaut noch im Qur’an bestehe.1
Analysiert man aber die oben angeführten Verse 2:234 und 2:241 des heiligen Qur’an, so wird ersichtlich, dass im ersten Vers die ‘idda (Wartezeit) der Witwen auf 4 Monate und 10 Tage festgelegt worden ist, wie die folgenden Worte eindeutig sagen:
„Und wenn welche unter euch sterben und Gattinnen hinterlassen, so sollen diese in Bezug auf sich selbst vier Monate und zehn Tage warten.“
Im zweiten Vers jedoch lauten die Worte wie folgt:
„Und die von euch sterben und Gattinnen hinterlassen, sollen ihren Gattinnen matā (Versorgung) auf ein Jahr vermachen, ohne dass sie aus dem Haus müssten.“
Im zweiten Vers wird die Problematik von matā (der Versorgung) thematisiert und nicht die der Wartezeit (‘idda). Die Ehemänner sollen vorsorgen, sodass bei einem Todesfall für die Gattinnen eine Versorgung für ein Jahr gewährleistet ist, ohne dass diese dafür das Haus verlassen müssten. Liest man den Vers weiter, so heißt es dort:
„Gehen sie aber von selbst, so soll euch kein Tadel treffen für irgendetwas, was sie nach Billigkeit mit sich selber tun.“
Verlassen diese Witwen aber innerhalb eines Jahres aus freien Stücken das Haus des verstorbenen Mannes, so ist dies nicht verwerflich. Dies deutet darauf hin, dass mit dem einen Jahr hier nicht die ‘idda gemeint sein kann. Es werden hier zwei verschiedene Themen angesprochen: ‘idda und mata.
Der Zweite KalifRA der Ahamdiyya Muslim Jamaat schreibt daher in seinem Werk Tafsīr-e kabīr zu diesem Vers:
„Einige sagen, dass dieser Vers (2:241) durch die Gebote zum Erbe abrogiert worden seien. Dies ist aber vollkommen falsch. Dieser Vers hat nichts mit dem Anteil der Witwe am Erbe ihres Mannes zu tun. Dies ist ein gänzlich anderes Gebot nämlich, dass neben dem Erbe die Frau für ein Jahr mit Verpflegung und Unterkunft versorgt werden muss.“2
Untersucht man diese Verse nach der aufgestellten nasḫ-Regel über den Offenbarungszeitpunkt, so liegt hier auch in dieser Hinsicht keine Abrogation vor. In Bukharī kitābu t-tafsīr finden wir hierzu einen wichtigen Hinweis in der folgenden Überlieferung:
„Muğāhid sagte über den Vers wa l-ladīna yutawaffauna minkum [und wenn welche unter euch sterben und Gattinnen hinterlassen, so sollen diese in Bezug auf sich selbst vier Monate und zehn Tage warten] (2:235), dass hier die Pflichtwartezeit ‘idda wağib (4 Monate, 10 Tage) gemeint ist. Danach offenbarte Allah wa l-ladīna yutawaffauna minkum wa yadarūna azwāğan wasīyyatan li-azwāğihim matā‘an ila l-hawli gayra ihrāğ (2:41)“.3
Muğāhids Aussage zeigt, dass der zweite Vers (2:41) zeitlich nach dem ersten Vers (2:235) – also später – offenbart wurde. Daher kann nach den formulierten Regeln des nasḫ (der später offenbarte Vers abrogiert den früheren) der Vers (2:41) nicht abrogiert worden sein. Somit ist dieses angebliche Beispiel von nasḫ sowohl inhaltlich als auch gemäß den selbst entwickelten Regeln der nasḫ-Befürworter völlig haltlos.
2. nasḫ al-hukm wa t-tilāwa (Abrogation des Gebotes und Textes)
Das bedeutet, dass ein Gebot und der dazugehörige Vers sowie seine Rezitation und Textstelle gänzlich abrogiert worden seien. In anderen Worten: Man meint damit, dass es gewisse Verse gab, die Gott den Menschen vergessen ließ, sodass sie nicht mehr ein Teil des Qur’an sind. Sie wurden gänzlich vergessen. Für die Unterstützung dieser These werden einige aḥādīṯ angeführt. So zitiert man gerne das folgende Hadith in Muslim:
„Abū Mūsa al-Aš‘arī ließ die qurrā (Qur’an-Rezitatoren) von Basra rufen. Es kamen 300 zu ihm und lasen den Koran. Abū Mūsa sagte zu ihnen: ,Ihr seid die besten unter den Menschen in Basra und ihr seid ihre Rezitatoren. So rezitiert den Koran und werdet nicht darin nach einer gewissen Zeit nachlässig. Und nicht, dass eure Herzen hart werden, wie die Herzen jener, die vor euch waren. Und wir pflegten eine Sure zu rezitieren, die in ihrer Länge und ihren Warnungen so groß war wie die Sure barā‘a. Dann vergaß ich sie. Ich erinnere mich davon nur an Folgendes: ,Wenn der Sohn Adams zwei Täler voller Reichtum hätte, so würde er dennoch nach einem dritten trachten. Und der Bauch von Adams Sohn wird nicht satt, es sei denn von Staub. Und wir rezitierten noch eine Sure, die wir mit einer Sure der musbihāt verglichen. Und ich habe sie vergessen, bis auf: ,O ihr, die ihr glaubt, warum sagt ihr, was ihr nicht tut. Solch ein Gerede wird in euren Hals geschrieben als Zeugnis. Und ihr werdet danach gefragt am Tag des Jüngsten Gerichts.‘“ 5
Die Frage nach dieser Abrogationsart ist wohl die am meisten diskutierte in Bezug auf die Genese des Qur’an. Es gibt hierzu widersprüchliche Berichte. In den Berichten heißt es, dass Gott den Menschen diese abrogierten Verse vergessen ließ. Wenn aber die Verse angeblich gemäß göttlicher Fügung vergessen wurden, wie sind dann einzelne Verse dennoch im Wortlaut in den Überlieferungen zu finden, wie es in der oben angegebenen Überlieferung heißt (siehe auch den sogenannten Steinigungsvers etc.)? Es gibt auch widersprüchliche Angaben dazu, wessen Worte diese angeblichen Verse genau seien. Denn im selben Kapitel von Muslim sind die Worte des oben schon erwähnten Hadith von ibn ādam als die Worte des Heiligen ProphetenSAW beschrieben. Es heißt im selben Kapitel:
„Anas berichtet, dass der Prophet Allahs Friede sei auf ihm sagte: ,law kāna li-ibni ādama wādiyāni min mālin la-abtaga wādiyan tālitan wa lā yamlā ğaufa ibni ādama illa at-turābu wa yatūbu l-lāhu ala man tāba‘ – ,wenn der Sohn Adams zwei Täler voller Reichtümer hätte, so würde er dennoch nach einem dritten trachten. Und der Bauch von Adams Sohn wird nicht satt, es sei denn von Staub. Und Gott vergibt dem, der Reue zeigt.‘“ 6
D. h., die angeblichen Verse in der Überlieferung von Abu Musa werden im selben Kapitel von Muslim als die Worte des Heiligen ProphetenSAW beschrieben. Auch eine genaue Analyse der Überlieferungskette, nach traditioneller islamischer Hadithwissenschaft, zeigt, dass das isnād (die Überlieferungskette) in diesem Hadith von Abū Mūsa nicht die Kriterien der Authentizität erfüllt und somit ein schwaches Hadith ist. Im Hadith von Muslim wird ein gewisser Suwaīd ibn Saīd als Überlieferer genannt. Hadith-Gelehrte wie Imam Bukhārī und Nisā‘ī und andere betrachten ihn als einen schwachen Überlieferer.7 Somit verliert diese Überlieferung ihre Authentizität und bleibt zweifelhaft und fragwürdig.
Diese angebliche Art von Abrogation steht auch diametral dem Versprechen Gottes entgegen, den Qur’an-Text zu schützen. Es heißt im Heiligen Qur’an: „Wahrlich, Wir, Wir Selbst haben diese Ermahnung hinabgesandt, und sicherlich werden Wir ihr Hüter sein“ (15:10). Und: „Und verlies, was dir von dem Buche deines Herrn offenbart ward. Da ist keiner, der Seine Worte verändern könnte“ (18:28). Dieses göttliche Versprechen gilt der Bewahrung des Qur’an-Textes. Daher wurde die quranische Offenbarung von Anfang an auf Befehl des Heiligen ProphetenSAW niedergeschrieben und zudem auswendig gelernt. Als Hadhrat ZaidRA das erste Mal von Hadhrat Abu BakrRA beauftragt wurde, den Qur’an an einer Stelle zu sammeln, ließ er dafür alles schriftliche Material zusammentragen und bestätigen. Er selbst war ein kātib al wahy, ein Schreiber der Offenbarung, und ein hāfiz (jemand, der den Qur’an auswendig gelernt hat). Wir finden keinen einzigen Hinweis in den Überlieferungen, dass bei dieser Sammlung irgendjemand die angeblich offenbarten Suren oder Verse erwähnt hätte oder schriftliches Material hierzu vorgelegt hätte. Kurzum, diese angebliche Abrogationsart ist absurd und ohne jegliche Substanz.
3. nasḫ at-tilāwa dāna al-ḥukm (Abrogation des Textes, jedoch bei Beibehaltung des Gebotes)
Abrogation des Verses, wobei das Gebot noch seine Geltung behält: Für diese Art der Abrogation wird der Vers über die Steinigung des Ehebrechers angeführt. So soll es angeblich einen Vers gegeben haben, der als Strafe für den Ehebruch zweier verheirateter Menschen die Steinigung vorsah. Dieser Vers sei jedoch abrogiert worden, wobei das Gebot noch bestehen blieb. Der Vers soll im Wortlaut so gelautet haben: aš-šayhu wa l-šayhatu idā zanayā fa-rğumūhumā al-battata nakālan min Allāh
Eine genaue Überlieferung findet man im Musnad von Ahmad bin Hanbal:
„Zar b. Hubaysch überliefert, dass einst Ubayy b. Ka‘b ihn fragte: ,Wie viele Verse der Sura ahzāb lest ihr?‘ Ich antwortete: ,Etwas mehr als 73 Verse.‘ Er sagte: ,Ich habe es gesehen, als es so lang war die (Sura) baqara und wir pflegten darin zu lesen: aš-šayhu wa l-šayhatu idā zanayā fa-rğumūhumā al-batta nakālan min allāh wa l-lzhu azīzun hakīm.‘“ 8
Diese Art von Abrogation wird noch heute von so manchen Gelehrten als Grundlage und Beweis für die Strafe bei Ehebruch aufgeführt. Es ist bekannt, dass die Steinigungsstrafe für Ehebruch in der Tora erwähnt ist und die Juden diese praktizierten. Was den sogenannten Steinigungsvers angeht, so findet sich eine interessante Überlieferung bei tabarī. tabarī schreibt darüber:
„Wann immer ein Edelmann Ehebruch mit einer Frau aus einer niedrigen Schicht beging, wurde die Frau gesteinigt. Sie schwärzten jedoch das Gesicht des Mannes und setzten ihn rückwärts auf ein Kamel. Ebenso wurde, wenn eine Frau aus einer höheren Schicht Ehebruch mit einem Mann aus einer niedrigen Kaste beging, der Mann gesteinigt. Die Juden brachten einen ähnlichen Fall vor den Propheten […] Er fragte die Juden: ,Wer ist euer größter Tora-Gelehrter?‘ Sie benannten jemanden [… Der Prophet] ließ ihn rufen und forderte ihn auf, bei Gott zu schwören und bei der Tora, die auf Moses hinabgesandt ward, um dann zu sagen, was die Tora für Ehebrecher gebiete. Der Mann erwiderte, dass sie den Ehebrecher aus einer niedrigen Schicht steinigen und aus einer höheren rückwärts auf ein Kamel setzen und sein Gesicht schwärzen würden […] Zögerlich räumte der jüdische Gelehrte dann doch ein, dass in der Tora folgende Verse vorkommen: Aš-šayhu wa l-šayhatu idā zanayā fa- rğumūhumā al-batta […]” 9
Die Überlieferung will sagen, dass der sogenannte Steinigungsvers ein Vers der Tora war und zu einem Fall von Ehebruch von einem jüdischen Gelehrten aus der Tora zitiert wurde. Also doch kein Vers des Qur’an! Unterstützt wird diese Annahme von zwei weiteren Überlieferungen, in denen es heißt, dass der Prophet sagte: „Ich werde gemäß der Tora urteilen.” 10 Und in einer Überlieferung gemäß Mālik heißt es: „Ich werde gemäß dem Buch Gottes urteilen.” 11
Der Ausdruck „Buch Gottes” bezieht sich auf die Tora und die Überlieferung von tabarī bestätigt diese Vermutung, dass hier nur der Tora-Vers gemeint war und nicht ein Vers aus dem Qur’an. Möglicherweise haben die Worte „Buch Gottes“ zu dem Missverständnis geführt, dass es sich um einen Qur’an-Vers handele. Im Heiligen Qur’an wird auch die Tora an vielen Stellen als ein Buch Gottes bezeichnet (z. B. 41:46).
Eine Überprüfung des genannten Hadith von Hanbal nach traditioneller islamischer Hadithwissenschaft zeigt, dass die Überlieferung nicht authentisch ist. In den isnād tauchen ein yazīd bin abī ziyād und ein āsim b. bahdala auf. Beide werden von den Gelehrten als schwache Überlieferer bezeichnet12, somit verliert das Hadith seine Authentizität. Dann bleibt hier noch die wichtige Frage offen, warum Gott einen Vers zu einem Gebot überhaupt aus dem Qur’an tilgen ließ, wenn es immer noch zu praktizieren war. Und wenn es zu praktizieren war, warum hat dann der Heilige ProphetSAW dazu geschwiegen und keine klare Aussage gemacht? Dies alles zeigt, dass auch hier die ganze Abrogationsthese eine spätere Erfindung der Gelehrten ist und keine Grundlage im Heiligen Qur’an hat.
Zuletzt wollen wir noch auf die beiden Verse eingehen, die von den Befürwortern als ein Beweis für eine angebliche Abrogation angeführt werden, nämlich die Verse: „Mā nansaḫ min āyatin aw nunsihā na‘ti bi-ḫayrin minhā aw mitlihā“ und „Wa idā baddalnā āyatan makāna āyatin wa-llahu a‘lamu bimā yunazilu“
Der zweite KalifRA schreibt zu dem ersten Vers in seinem exegetischen Werk Tafsīr-e kabīr:
„In diesem Vers kann nur etwas thematisiert worden sein, was in dem vorangegangenen Vers angesprochen worden ist, nämlich, dass das Volk der Schrift es nicht mochte, dass über euch etwas Gutes hinabgesandt wird. Aber Allah auserwählt für seinen Segen, wen Er will, und Er sandte zu euch das Gute d. h. den Heiligen Qur’an. Aber da hier die Frage aufgeworfen werden könnte, wozu ein neues Buch notwendig sei, wenn es schon vorher offenbarte Bücher gab, wird in diesem Vers dieser Einwand beantwortet, indem gesagt wird, dass es in den vorherigen Büchern gewisse Stellen gab, die jetzt abrogiert werden mussten, oder es gab Dinge, die die Menschen mit der Zeit vergaßen und die somit in diesen himmlischen Büchern nicht mehr vorhanden waren. Daher gab es die Notwendigkeit, diese nochmals zu erwähnen. So wurde ein Teil der alten Gebote getilgt und eine bessere Lehre im Heiligen Qur’an offenbart. Und das, was vergessen worden war, wurde in diesem Buch nochmals erwähnt. Deswegen kann der Einwand durch das Volk der Schrift nicht gelten, denn selbst in ihren Büchern wird die Kunde von einem neuen Gesetz gegeben.
In Jeremia Kapitel 31 V. 30 heißt es: ,Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund eingehen; einen anderen als den Bund, den ich mit ihren Vätern einging.‘
Dann heißt es in Hebräer Kapitel 8, V. 8–9: ,Siehe, es kommen die Tage, spricht der HERR, dass ich über das Haus Israel und über das Haus Juda ein neues Testament machen will; nicht nach dem Testament, das ich gemacht habe mit ihren Vätern an dem Tage, da ich ihre Hand ergriff, sie hinauszuführen aus Ägyptenland. Denn sie sind nicht geblieben in meinem Testament.‘
Das ist die Bedeutung, die dem Kontext des Verses und des Heiligen Qur’an entspricht. Ansonsten sind die oben erwähnten Interpretationen einiger Exegeten falsch. Weder entsprechen diese den Worten des Heiligen Qur’an noch dem Kontext des Verses und sie widersprechen auch der Vernunft. Es ist nichts von dem Heiligen ProphetenSAW überliefert, was solche Ansichten unterstützen würde. Der gesamte Qur’an ist praktikabel. Deswegen praktizierte der Heilige ProphetSAW bis zu seinem Tod alle Gebote des Qur’an und wies die Menschen an, diesen zu folgen. Der Heilige Qur’an bekundet mit klaren Worten den Schutz seines Textes, wie es in dem Vers heißt: ,Wahrlich, Wir haben diese Ermahnung hinabgesandt und Wir sind ihre Beschützer.‘ Angesichts dieser Tatsachen kann keine Rede davon sein, dass bestimmte Verse abrogiert wären. Der Heiligen Qur’an, der jetzt in dieser Welt vorhanden ist, hat keinen einzigen Vers, der abrogiert wäre, und es gibt darin keinen Widerspruch, für dessen Aufhebung wir uns auf das vermeintliche Vorhandensein einer Abrogation stützen müssten.“ (Tafsīr-e kabīr Bd.2, Qadian 2004, S. 101)
Zu dem Vers der Sure an-Nahl:102 „Und wenn wir ein (āyah) Zeichen anstelle eines anderen bringen – und Allah weiß am besten, was Er offenbart –, sagen sie: ,Dubist nur ein Erdichter.‘ Nein, aber die meisten von ihnen wissen es nicht“, schreibt der zweite KalifRA:
„Die eigentliche Bedeutung des Wortes āyah ist ,Zeichen‘ […] Die Frage hier ist, wenn keine Verse des Qur’an jemals verändert wurden, was ist dann die Bedeutung dieses Verses? Die Antwort darauf lautet, dass im Heiligen Qur’an das Wort āyah im Allgemeinen im Sinne von ,himmlisches Zeichen‘ verwendet wird. Und genau das ist auch die Bedeutung des Wortes āyah in diesem Vers. Gott sagt, dass, wenn Er ein himmlisches Zeichen ändert und an seiner Statt ein anderes Zeichen zeigt, dann könne man dagegen keinen Einwand erheben, denn Er weiß am besten, welches Zeichen für welche Gelegenheit gezeigt werden muss. Aber die Ungläubigen erheben Einspruch und bezichtigen den Propheten, ein Lügner zu sein. Aber ihr Einspruch beruht auf Unwissenheit. Es ist ein Gesetz Gottes, das zur Zeit eines jeden Propheten auftritt, d. h., jedem Propheten werden einige warnende Prophezeiungen gegeben, die bedingt sind durch den Herzenszustand des Volkes. Wenn das Volk den Zustand seines Herzens ändert, so wird auch die Warnung aufgehoben, so wie es im Heiligen Qur’an vom Volk JonasAS berichtet wird. Hadhrat JonasAS wurde die Kunde von der Vernichtung seines Volkes gegeben, aber da sein Volk Reue zeigte, wurde es verschont (Sura Yunus).
Das ist die allgemeine Gesetzmäßigkeit über warnende Prophezeiungen, dass, wenn die Gegner Reue zeigen, die Strafe Gottes aufgehoben wird. Wenn aber etwas versprochen ist, dann erfüllt Gott Sein Versprechen, aber auch hier gilt: Wenn das Volk nicht aufrichtig ist und keinen vollkommenen Gehorsam zeigt, dann wird der Zeitpunkt der Erfüllung des Versprechens hinausgezögert, wie Gott mit dem Volk MoseAS verfuhr. Als das Volk wiederholt MosesAS nicht gehorchte, wurde ihm das gelobte Land, für das MosesAS es aus Ägypten herausgeführt hatte, für vierzig Jahre verwehrt. Über die Verheißung an das Volk Mose heißt es im Heiligen Qur’an: ,O mein Volk, betretet das Heilige Land, das Allah für euch bestimmt hat‘ (5:22). Dann wird über den Ungehorsam der Juden gesprochen: ,Er sprach: ‚Wahrlich, verwehrt soll es ihnen sein vierzig Jahre lang; umherirren sollen sie auf der Erde. Und betrübe dich nicht über das aufrührerische Volk‘‘ (5:27). Von diesem Vers erfahren wir, dass das Versprechen verzögert wurde, aber nicht aufgehoben. Denn Gott hebt seine Versprechen nicht auf. Wenn nun gemäß diesem Gesetz einige warnende Prophezeiungen aufgehoben werden, erheben die Ungläubigen den Einwand, dass der Prophet ein Lügner wäre. Genau solche Einwände wurden gegen den Heiligen ProphetenSAW erhoben. Darüber sagt Gott, dass Zeichen einen Sinn und Zweck haben. Wenn Gott sieht, dass jemand sich reformiert und verbessert hat, dann ändert sich der Gottesbefehl über ihn und die Bestrafung wird aufgehoben, sodass statt der Strafe ein Zeichen der Barmherzigkeit gezeigt wird. Denn Gott möchte die Menschen nicht bestrafen, sondern Er möchte, dass sie sich reformieren.“ (Tafsīr-e kabīr Bd. 4, Qadian 2004, S. 237)
Referenzen
1. Šu’la, Abī ‘Abdullah: ṣafwat ar-rāsiḫ fi ‘ilm al-mansūḫ wa n-nāsiḫ, [hrsg. v. Dr. Ibrahim Abdurrahman], maktaba aṯ-ṯaqafa ad-dīnīyya, Kairo 1995 , S. 41 f.; vgl. auch: Burton, John: The sources of Islamic Law, Edinburgh 1990, S. 41 ff.
2. Tafsīr-e kabīr, Band II, Qadian 2004, S.540.
3. Bukhari, Kitab Tafsir, Bab wal-lazina yatawafauna minkum.
4. Ebd.
5. Muslim, Kitābu z-Zakā, Bāb law anna li ibni adama wādiānī, Nr. 2419; Šu’la, Abī ‘Abdullah: ṣafwat ar-rāsiḫ fi ‘ilm al-mansūḫ wa n-nāsiḫ, [hrsg. v. Dr. Ibrahim Abdurrahman], maktaba aṯ-ṯaqafa ad-dīnīyya, Kairo 1995 , S. 41 f.; vgl. auch: Burton, John: The sources of Islamic Law, Edinburgh 1990, S. 41 ff.
6. Muslim, Kitābu z-Zakā, Bāb law anna li ibni adama wādiānī, Band I, Idara Islamīyyāt Karachi 2007, S. 880.
7. Vgl. Dahabī, Muḥammad b. Aḥmad b. Uṯmān: Siyar A’lām in-Nubalā, Libanon, International Ideas Home 2004, S. 1956.
8. Hanbal, Ahmad b.: Musnad Ahmad, Band 15, Musnad Ansar Hadith, Nr. 21108, dār al hadit, Kairo 1995, S. 447.
9. Tabari zitiert gemäß Burton, John: The Sources of Islamic Law, Edinburgh 1990, S. 131.
10. Burton, John: The Sources of Islamic Law, Edinburgh 1990, S. 132.
11. Ebd.
12. Siehe: Ad-Dahabi: Mizanu l-i‘tidal fi naqd ar-rigal, Beirut 1963.
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