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»Moral wird nur beachtet, wenn sie dem Eigeninteresse dient«

Wie viel Leid lässt uns kalt? - Über Doppelmoral, unsere Verrohung und eine verworfene, aber bewährte Einrichtung, die uns wieder menschlicher machen kann.
danielmancuso

von Ansar Arshad

In Zeiten von Krieg und Konflikten erleben wir eine neue Welle der Abstumpfung gegenüber Gewalt und Leid. Ist uns noch bewusst, wie schwerwiegend der Verlust von Menschenleben ist? ›Der Tod eines einzelnen Menschen ist eine Tragödie, aber der Tod von Millionen nur eine Statistik‹ ist ein bekanntes Zitat, das das heutige Paradigma in Bezug auf aktuelle Krisen widerspiegelt. Im Gegensatz dazu heißt es: ›Jeder Tod ist einer zu viel‹. Ein Satz, der mantraartig aus dem Munde vieler Politiker und Regierungsvertreter kommt, aber nichts nützt.

Wie können wir diese Verrohung stoppen?

Roger Fischer, ein amerikanischer Professor, hat eine interessante Idee entwickelt, wie man einen Präsidenten daran hindern kann, den Startcode für Atombomben zu aktivieren und damit die Vernichtung von Millionen von Menschen zu verhindern. Er sagt:

»Mein Vorschlag war ganz einfach: Man packt die nötige Codenummer in eine kleine Kapsel und implantiert diese Kapsel direkt neben dem Herzen eines Freiwilligen. Dieser Freiwillige würde ein großes, schweres Fleischermesser bei sich tragen, wenn er den Präsidenten begleitet. Sollte der Präsident jemals Atomwaffen einsetzen wollen, könnte er dies nur tun, wenn er zuvor einen Menschen eigenhändig getötet hätte. Der Präsident sagt: „George, es tut mir leid, aber zig Millionen Menschen müssen nun sterben.“ Er muss jemanden ansehen und erkennen, was der Tod ist – was ein unschuldiger Tod ist. Blut auf dem Teppich des Weißen Hauses. Das ist die Realität, die uns so präsentiert wird.«

Dieses ›Fisher-Protokoll‹ ist eine Methode, um die Konsequenzen unmittelbar greifbar zu machen. Lässt uns dieses Beispiel nicht den desolaten Zustand der Welt erkennen? Doch welches Lebenssystem könnte dieses Problem an der Wurzel packen und diese Gefühllosigkeit für alle letztendlich brechen? Führen die Spuren zur Lösung dieses Problems nicht zurück zur Religion?

Religiosität wird heutzutage jedoch nicht gerade hoch geschätzt und oft als Relikt der Vergangenheit angeprangert. Schon zu Lebzeiten des Heiligen Propheten Muhammads (saw) wurde die Religion herabgewürdigt und als ›Märchen aus der Antike‹ bezeichnet. Leider wird die Kraft einer Religion, die Mitgefühl und Menschlichkeit predigt und veredelt, völlig missachtet. Die grundlegenden humanitären Werte der Religionen, insbesondere des Islam, haben die Messlatte für eine funktionierende Gesellschaft hoch gelegt. Während moralische Verwahrlosung in der Gesellschaft vorherrscht, ist das altruistische Gemeinschaftsgefühl, das allen Religionen zueigen ist, wegweisend für die Gestaltung einer Gesellschaft. Im Heiligen Qur’an heißt es:

»Und wer ist besser in der Rede als einer, der zu Allah aufruft, Rechtschaffenheit übt und sagt: „Ich gehöre zu denen, die sich ergeben“? Nichts Gutes ist dem Bösen gleich. Wehre (das Böse) mit dem ab, was am besten ist: und siehe, wenn es Feindschaft zwischen dir und einem anderen gibt, wird dieser wie der wärmste der Freunde.«1

Hadhrat Mirza Tahir Ahmad, der Vierte Kalif in der Ahmadiyya Muslim Gemeinde, erklärt jenen Vers wie folgt:

»Der Heilige Koran bietet uns eine Lösung – und Tatsache ist, dass dies die einzige praktische Lösung ist. Unsere Aufmerksamkeit wird auf Folgendes gelenkt: Solange die Menschheit nicht zu Gott gerufen wird, können die Probleme, mit denen die Menschen konfrontiert sind, niemals gelöst werden. Keine (spezifische) Religion wird erwähnt – das ist der wichtigste Punkt. Es wird nicht gesagt, dass die Probleme der Welt nicht gelöst werden können, solange man kein Muslim ist – solange man kein Sikh, Hindu, Christ, Jude oder wie auch immer man sich nennen möchte – ist. Es wird keine bestimmte Religion als Lösung für die Probleme der Welt erwähnt – es wird nur gesagt, dass man zum Weg Allahs aufrufen sollte«

Er fährt fort:

»Und ohne dieses Erwachen – ohne diese universelle und ewige Weisheit – wird keines der Probleme der Menschheit gelöst werden, wie nachdrücklich man auch darauf besteht. Keine Macht der Welt kann dies erreichen. Es ist unmöglich, bis alle Mächte beschließen, zu absoluter Gerechtigkeit und zur absoluten Einhaltung der Moral zurückzukehren.«

Während der kategorische Imperativ des Philosophen Kant keine zielgenaue Beschreibung moralischen Handelns liefert und der Emotivismus die Moral trivialisiert, erklärt Seine Heiligkeit den entscheidenden Unterschied zwischen Vernunft und intrinsischer Moral. Denn die Vernunft allein hält den Menschen nicht vom Töten ab, sondern strebt vielmehr nach dem ›Goldenen Kalb‹ – selbst wenn man vor nichts zurückschrecken muss, um es zu erlangen. Er sagt:

»Politiker sind nicht dumm – das wissen wir; sie sind sehr intelligent, sonst wären sie nicht in die Positionen aufgestiegen, in denen sie sich befinden – obgleich manchmal auf Kosten der Moral! Dies ist eine Welt, die vom Streben nach Profit geprägt ist, in der das Eigeninteresse regiert. Moral wird nur akzeptiert und respektiert, wenn sie dem Eigeninteresse dienen kann, aber nicht, wenn der Gegner davon profitieren könnte. Das ist das Dilemma, die globale Krise, mit der wir heute konfrontiert sind. Der Heilige Qur’an erinnert uns daran, dass nichts erreicht werden kann, wenn dieser Zustand nicht korrigiert wird.«

Was also finden wir in jenem Heiligen Qur’an?

»Wer einen Menschen tötet, ist, als hätte er die ganze Menschheit getötet, und wer ein Leben rettet, ist so, als hätte er das Leben der ganzen Menschheit gerettet.«2

Die Forderung nach dem Erhalt jeglichen Menschenlebens ist diesem Vers nach für Muslime zu einer menschlichen Verpflichtung geworden. Täglich sterben heute vor allem im Nahen Osten Dutzende Palästinenser, während das Schweigen der breiten Masse ungebrochen bleibt. Es spielt indes keine Rolle, ob man für Israel oder für Palästina ist. Alle müssen sich zusammenschließen und Hand in Hand für einen vollständigen Waffenstillstand überall arbeiten! Oder wie Stefan Zweig es treffend formulierte: „Einer muss den Frieden beginnen wie den Krieg.“

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1: Der Heilige Qur’an, Vers 41:35
2: Der Heilige Qur’an, Vers 5:33

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